Romano Guardini und die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für die sehende und erkennende Begegnung zwischen Menschen, Tieren und Dingen
Es handelt sich um die deutsche Fassung eines in italienisch gehaltenen und eines voraussichtlich 2026 im Englischen gedruckten Tagungsbeitrag vom 12. Januar 2022. Die hybrid in Rom und virtuell abgehaltene Tagung zum Thema "Threefold seeing" wurde von Yvonne Dohna Schlobitten organisiert.
Ein katholischer und dreifaltiger Weg des Welt-Erkennens
Was ist Sehen und Erkennen für Guardini?
Was ist Begegnung für Guardini ?
Die Begegnungs- und Erkenntnisräume und die Polarität von Oben und Innen
Das Verhältnis von Raum und Zeit
Der Mensch "wird" im Raum der gegenständlichen Bestimmtheit des Dings
Das Einzelding und die Ganzheit
Guardinis Unterscheidung zwischen zeitlichen "Räumen" und dem ewigen Raum der Trinität
Im Jahr 1930 fasste Guardini seine Erkenntnisse über das „lumen mentis“ in seinem Essay „Bonaventura. Eine Denkergestalt des hohen Mittelalters" (in: Unterscheidung des Christlichen, Band 3: Gestalten, Mainz (3)1995, S. 17 ff.) zusammen:
"In diesem "Licht" strahlt für Bonaventura die Idee, das ewige Wesens-, Wert- und Sinn-Bild im Geiste auf. Da aber die Idee in Gott "ist", so bedeutet Erkenntnis einen irgendwie gearteten "Kontakt" mit Gott. In der Erkenntnis berührt Gott den Geist mit der Idee, die ja sein lebendiger, urbildlicher Gedanke von dem betreffenden Ding, von dessen Wesens- und Wertfülle ist. Aber, und wieder rühren wir an eines der Grundmotive dieser Denkgesinnung: es gibt keine bloße Wahrheit, keine kalte Richtigkeit. Daher auch kein unbeteiligtes Feststellen von Wahrheit, kein bloß gegenständliches Erfassen. Die Idee ist nicht nur […] das Wesensbild, sondern auch das Wertbild, die Sinn- und Schönheitsnorm des Dinges. Erkennen ist also nicht nur Erfassen von Wahrheit, sondern auch Berührtwerden durch Schönheit und Wert, und ebendamit ist es Liebe. Das Einstrahlen der Wahrheit ist zugleich ein Warmwerden, inflammari; und ist ein moveri, Auslösung innerer Bewegung, Ergriffenwerden durch Wert und Schönheit. Die lebendige Freiheit kommt in Bewegung, und diese Bewegung der Freiheit ist Liebe" (ebd., S. 17 f.).
Für Bonaventura und auch für Guardini ist Erkenntnis ist "immer irgendwie Liebesbegegnung. Ein Gewonnenwerden des Herzens und seiner Freiheit für das Ewig-Werthafte in dieser besonderen Gestalt […] Gestalten ist für Bonaventura ein Durchlichten. Und so wird ausdrücklich gesagt, das lumen mentis sei auch Befähigung zum rechten Tun. Dem entspricht es auch, wenn die Idee unter anderen Beziehungen immer wieder "ars" genannt wird; "ars divina", ["göttliche Kunst"], Kraft der hellen Gestaltung, der klaren Sichtbarmachung des Sinnes; Kraft, die das schafft, was angeschaut und geliebt werden kann" (ebd., S. 18).
"Wenn wahres Erkennen ein solches Berühren des Ewigen ist, Einstrahlung geistigen Lichtes, Angerührt-Werden durch jene ontische Wärme des Wahren, die das Werthafte-Gute ist; wenn Wahrheit sich so […] in lebendige Gestaltkraft umsetzt, wenn also Denken und Erkennen kein Gebrauch eines abstrakten Mechanismus ist, sondern eine Bewegung, ein Tun lebendigen Geistes - dann geht es nicht ohne weiteres vor sich. Dann ist Erkennen nicht Sache einer von selbst arbeitenden Apparatur. Dann genügt zum rechten Erkennen bloße Aufmerksamkeit, logische Sauberkeit und Anstrengung noch nicht, sondern es werden Voraussetzungen in der lebendigen Haltung, im Tun, ja im Sein gefordert" (ebd., S. 18f.).
Sokrates und die Annäherung zwischen dem Erkennenden und der Wahrheit
Bereits 1927 spricht Guardini erstmals vom "ungeheure(n) Erlebnis von der frei machenden Kraft der Wahrheit", die sich beispielsweise in der Haltung eines Sokrates manifestiert. Guardini greift diesen Gedanken 1948 erneut auf:
"Sobald richtig erkannt wird, wird das Wirkliche in das Licht seines Wesens gestellt, und der Sinnraum der Wahrheit öffnet sich. Der Erkennende tritt ein, richtet sich auf, atmet und entfaltet sich. Dieses Sich-Aufrichten, Sich-Weiten und -Festigen, dieses Freiwerden des Geistes in der Wahrheit ist es, was die platonischen Schriften so mächtig erfüllt." Zum Beispiel, wenn Sokrates erklärt, "der Erkennende werde im Schauen der Wahrheit selbst wahrheitsartig und ewigkeitsfähig" (Guardini, Freiheit - Gnade – Schicksal, 1994, S. 41).
Die Übertragung auf die Begegnung mit Kunstwerken
In beiden Texten, „Lebendige Freiheit“ (1927) und „Freiheit - Gnade – Schicksal“ (1948), überträgt Guardini diesen Gedanken auf die Begegnung mit der „vollendeten Gestalt“, also dem Kunstwerk. 1927 stellt Guardini fest:
"Der Sinn des Kunstwerkes besteht darin, daß ein Wesen, ein Verborgenes in Gestalt ausgesprochen ist. Aber nicht so, daß man vor ihm stehenbleiben müßte. Die endgültige Haltung dem Kunstwerk gegenüber ist nicht das Anschauen aus Abstand. Das Kunstwerk ist vielmehr so, daß man in es hineingehen kann. Man kann ihm inne sein; man wird da von geformtem und formendem Sein erfaßt und selbst recht gemacht. Dieses Eingehen in den gestalteten geistigen Raum des Kunstwerkes wird ebenfalls als Befreiung erfahren" (Guardini, Lebendige Freiheit, in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, 1994, S. 108).
Rund zwanzig Jahre später fügt Guardini hinzu, dass der „eigentliche Sinn“ des Kunstwerks darin bestehe, "daß es eine Welt bildet, in welcher sich das Wesen der Dinge und zugleich, mit ihm verwoben, das des gestaltenden Menschen selbst reiner und voller offenbart als in der Wirklichkeit - ebenso wie sich der dargestellte, zunächst bruchstückhafte Ausschnitt dieser Wirklichkeit zu einem Ganzen formt, das ein Symbol des Gesamtdaseins bildet. In diese wesensklare kleine Welt tritt der Schauende ein und ahnt das unmittelbar nie zu ergreifende Ganze. Er wird seines eigenen Wesens inniger gewiß und erfährt eine aus tieferer Wesentlichkeit kommende Formung. Auch darin liegt Freiheit: ein Weitwerden von Blick und Sein in einer Gestalt, welche das wachsende, ringende, bruchstückhafte Leben mit der Verheißung möglicher Vollkommenheit berührt" (Guardini, Freiheit - Gnade – Schicksal, 1994, S. 42).
Oft übersehen wird in diesem Zusammenhang ein Nachwort Guardinis zu Kleists Text „Puppenspiel“ aus dem Jahr 1924. Guardini stellt fest, dass die Betrachter ihrer eigentlichen Aufgabe als Kontemplierende gerne ausweichen, die darin bestehe: "Jenes Stück Menschenwelt aufzurichten, das wir aufrichten sollen, wenn anders wir in der wesenhaften Gemeinschaft von Schöpfer und Schauenden stehen wollen; wenn anders wir wirklich Schauende sein wollen und nicht nur Unterhaltene" (Kleists Puppenspiel (1924). Eine Nachbemerkung, in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 2, 2001, S. 195).
Guardini und das "Lob des Buches"
In der Vorbemerkung seiner Elogie „Lob des Buches“ (1951) berichtet Guardini, er habe sich zu diesem Lob der Bücher verpflichtet gefühlt, „zu einer Zeit, da so viele Bücherliebende ihre Freunde verloren haben, viele andere aber, die solcher edlen Freundschaft fähig gewesen wären, durch die lange Herrschaft des Ungeistes von ihr ferngehalten worden sind“ (Guardini, Das Lob des Buches, in: Wurzeln eines großen Lebenswerks – Band 4, 2003, S. 82). Guardini eröffnet seine Rede mit der Frage: „Liebt Ihr das Buch?“ Diese Frage meint nicht „Bibliophilie“, sondern jene Liebe, die "sich aber auf das Buch selbst und als solches“ richtet. Der Mensch, der Bücher "liebt, […] empfindet es wie ein Geschöpf, das man in Ehren hält und pflegt, und an dessen Leibhaftigkeit man sich freut. […] Diesen wahren Liebhaber des Buches erkennt man schon an der Weise, wie er es aus dem Regal nimmt und aufschlägt, in ihm blättert und es wieder zurückstellt. […] Liebe zum Buch hat jener, der abends in seinem Zimmer sitzt, und es ist still geworden – vorausgesetzt freilich, daß es um ihn, den Glücklichen, dann wirklich still wird – und auf einmal sind ihm die Bücher im Zimmer wie lebendige Wesen. In seltsamer Weise lebendig. Kleine Dinge und doch erfüllt von Welt. Ohne Regung und Laut dastehend, und doch bereit, jeden Augenblick die Seiten zu öffnen und ein Zwiegespräch zu beginnen: stark oder zart, voll Freude oder Trauer, von Vergangenheit erzählend, in die Zukunft weisend oder Ewigkeit rufend, und um so weniger zu erschöpfen, je mehr der zu schöpfen vermag, der zu ihnen kommt“ (ebd., S. 84).
Ausdrücklich vergleicht Guardini dagegen den bloßen Buchnutzer mit dem Tier-Verwerter als jenen, "der das Buch als bloßes Mittel zum Zweck nimmt, und bei dem man ein ähnliches Gefühl hat, wie wenn ein Mensch mit Tieren nur unter dem Gesichtspunkt umgeht, daß er sie wissenschaftlich studieren oder praktisch verwerten kann" (ebd.).
Francis Jammes und die "Gewißheit, daß die Dinge Seelen haben"
Als Guardini bei dem französischen Autor Francis Jammes eine kleine Geschichte entdeckte, die er übersetzen wollte, übernahm er bewusst die Weise, in der Francis Jammes über Dinge erzählte. Guardini vergleicht diesen Weise mit einigen Kunstwerken moderner Maler, vor denen man das Gefühl hat, mit dem Stuhl, der Vase oder den Äpfeln sprechen zu können ("Von den Dingen" (1928), in: Spiegel und Gleichnis, a.a.O., S. 63). Die Quintessenz der Geschichte ist: „Die Gewißheit, daß die Dinge Seelen haben, lebt in den Kindern, in den Tieren und in den Einfältigen" (ebd., S. 65).
Die Seele von Tieren und die Erwartung in der Natur
Bereits in einem Brief an den Schriftsteller Heinrich Hansjakob (1837–1916) vom 15. Januar 1904 offenbarte Guardini seinen Glauben an die Seele der Tiere. Er teile Hansjakobs Ansicht, dass Tiere eine Seele besitzen, auch wenn er für diese Überzeugung oft verspottet wurde. [Werner Scheurer: Heinrich Hansjakob und Romano Guardini, in: Manfred Hildenbrand/Werner Scheurer (Hrsg.): Heinrich Hansjakob (1837-1916). Festschrift zum 150. Geburtstag, 1987, S. 246-251, besonders S. 250].
Obwohl Guardini den Missbrauch des Begriffs der Personalität für Dinge oder Tiere ablehnt, da persönliche Reife, persönlicher Charakter und persönlicher Geist ausschließlich dem Menschen vorbehalten sind, ist er mit Bonaventura und der Heiligen Schrift überzeugt, dass die gesamte Schöpfung Gottes und das menschliche Wirken selbst als „vestigium Dei“ den Charakter der Begegnung, der Verheißung und der Erlösung tragen. Daher schreibt er ihnen jene personalen Anteile zu, die die göttliche und die menschliche Schöpfung als „vestigium Dei“, als „Spurbild“ des Schöpfers, charakterisieren.
Der Verlust des Mysteriums
Guardini schreibt in "Vom lebendigen Gott" (1930): „Wir haben bereits von dem geheimnisvollen Leben gesprochen, das aus Gottes Liebe in den Menschen kommt, "von oben her", "vom Himmel"; das ihm geschenkt wird und doch zutiefst sein eigen und in dem er erst wird, was er eigentlichst sein soll. Was ist es aber mit den Dingen um uns her? Dieses Geheimnis des neuen Lebens - gibt es das nur für den Menschen? All die Dinge der weiten, reichen Welt: die ragenden Berge, die Bäume in der Fülle und im Rätsel ihres stillen Lebens, die Schönheit der Gestirne, die unermeßbaren Gewalten des Alls, das Abgründige der Welt, so tief, so seinsgewaltig sich selbst bezeugend - was ist's damit? All das Große, das Kostbare ringsum - fällt das aus dem Geheimnis des geschenkten Gotteslebens heraus? Reicht dieses Leben nur so weit, als der Mensch reicht? Manche Menschen haben das Gefühl, in der Natur liege eine tiefe Erwartung. Da sei mehr und anderes als nur Dinge, die man greifen und brauchen kann. […] Im Römerbrief heißt es: Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung war der Vergänglichkeit unterworfen; nicht freiwillig, sondern um dessentwillen, der sie unterwarf, auf Hoffnung, dahin, daß auch sie, die Schöpfung, von dem Dienste der Verwesung soll befreit werden zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Wissen wir ja doch, daß die ganze Schöpfung mitseufzt und in Wehen liegt bis jetzt" (Röm 8,19ff)“ (Guardini, Vom lebendigen Gott, Topos 104, S. 78).
Der hl. Franziskus und das "Großes verheißende Geheimnis"
Guardini fährt damit fort, dass es nur wenige Erwachsene gibt, die auf einer höheren Ebene einen ähnlich großen Einfluss auf ihre Umwelt ausüben. Einer von ihnen war der heilige Franziskus. In solchen Persönlichkeiten wird deutlich, was der heilige Paulus im Brief an die Römer meinte.
„Diese Herrlichkeit der Kinder Gottes hat angefangen, in Franziskus und um ihn her offenbar zu werden. In seiner Nähe hat die Welt begonnen, selig zu werden. In seinen Augen und in seinem Herzen und in seinen Händen haben die Dinge begonnen, anders zu werden, als sonst ... Das ist ein großes verheißendes Geheimnis“ (ebd., S. 80).
Zusammenfassung
Guardini schrieb bereits 1916: "Dieses "Band der Gnade" gibt allein den Menschen die sittliche Kraft, das Wesensziel der Gemeinschaft zu verwirklichen, wirklich ein lebendiges "Spurbild" der Hochheiligen Dreieinigkeit zu werden. So kommt ihm aus der Trinität nicht nur das Vorbild des Gemeinschaftslebens, sondern auch die Kraft, es zu erreichen" (Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 1, 2000, S. 53).
Dies gilt jedoch nicht nur für das Verhältnis zwischen Person und Gemeinschaft, sondern für alle Begegnungen zwischen Menschen und anderen Wesen, ob mit dem Sinn, die Wahrheit zu erkennen oder die Wahrhaftigkeit zu verwirklichen. In seinen Ethikvorlesungen in den 1950er Jahren fügte Guardini hinzu: "Erkennen bedeutet, daß im Geist des Menschen der Sinn des Seins offenbar wird. Das heißt aber, daß an ihm, an dieser ihm zugewiesenen Stelle der Geschichte sich der Sinn der Welt erfüllt. Daß hier recht eigentlich erst Welt wird. […] Die eigentliche Welt geht aus der Begegnung zwischen mir und dem Vorhandenen hervor: in unserem Fall aus jener Begegnungsform, die Erkenntnis heißt. Darin wird die bloß vorhandene Welt zur erkannten und gewinnt so ihre endgültige Dimension. Dadurch erfüllt […], der Mensch den göttlichen Auftrag, immerfort die Welt zu vollenden, und darin "Bild und Gleichnis" des Schöpfers zu werden“ (Guardini, Ethik, 1993, S. 736 f.).