Guardini und „Ulm“: Unterschied zwischen den Versionen
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== Die offizielle Eröffnung der "Hochschule für Gestaltung" und erste finanzielle Schwierigkeiten (1955/56) == | == Die offizielle Eröffnung der "Hochschule für Gestaltung" und erste finanzielle Schwierigkeiten (1955/56) == | ||
== Das 10jährige Jubiläum der Ulmer Volkshochschule und Guardinis Vortrag über „Das Wesen des Interpretierens“ (1956) == | == Das 10jährige Jubiläum der Ulmer Volkshochschule und Guardinis Vortrag über „Das Wesen des Interpretierens“ (1956) == | ||
== Der endgültige Rückzug Max Bills und der Rückzug Guardinis aus den Hochschulgremien (1957 | == Der endgültige Rückzug Max Bills (1957) und der altersbedingte Rückzug Guardinis aus den Hochschulgremien == | ||
Max Bill verließ 1957 die Hochschule auch als Lehrender. Im Nachlass von Guardini (B23/02-04-6) findet sich ein Brief von Inge Aicher-Scholl an Guardini vom 10. April 1957 mit der Mitteilung, dass Max Bill sich von der Hochschule zurückziehen wird. Sie begründet das gegenüber Guardini damit, daß dieser sich nicht "als fähig zur Teambildung gezeigt" habe. Dies habe Gropius als vorhersehbar bestätigt. Die entsprechende Vereinbarung zwischen Hochschule und Max Bill vom 12. März 1957 lag als Anlage bei. | |||
Guardini hat sich bald darauf - wann genau ist noch nicht ermittelt - ebenfalls aus den Gremien der Hochschule zurückgezogen, wohl vor allem aus gesundheitlichen und Altersgründen. | |||
== Guardinis zweite Gedächtnisrede auf die Weiße Rose: „Es lebe die Freiheit“ (1958) == | == Guardinis zweite Gedächtnisrede auf die Weiße Rose: „Es lebe die Freiheit“ (1958) == | ||
In seinem Tagebucheintrag vom Montag den 24. Februar 1958 schreibt Guardini selbst zum Entstehen seiner Rede: ''„Heute Abend rief der Rektor hier an und forderte mich auf, zu überlegen, ob ich bereit sei, am 12. Juli die Festrede zu halten bei der Einweihungsfeier des Lichthofs der Universität, in den die Geschwister Scholl damals die Aufrufe gegen Hitler hinuntergeworfen hatten, und das Denkmal für die sechs im gleichen Lichthof. Ich hatte gleich das Gefühl, das tun zu müssen. Es ist wohl nicht gleichgültig, wie die Rede ausfallen wird, die vor einer großen akademischen, aber auch offiziellen Hörerschaft gehalten werden soll. Also muß ich die Sache gut überlegen. Meine persönliche Situation wird dadurch nicht einfacher. Vielleicht über die Verpflichtung gegen die Geschichte, angesichts der Gleichgültigkeit gegen die Geschichte der Zeit in Westdeutschland. Immer mehr wird die Haltung geschichtslos: Geld, Vergnügen, Technik, Sport ... Bei der Feier für die Geschw. Scholl am vergangenen Samstagabend seien etwa 150 Studenten und ein Dutzend Professoren dagewesen. Bei der Versammlung wegen des Gitterspruchs im Lichthof (Dulce et decorum ...) waren es zwischen 2500-3000. Da ging es aber auch um Krachmachen.“'' | In seinem Tagebucheintrag vom Montag den 24. Februar 1958 schreibt Guardini selbst zum Entstehen seiner Rede: ''„Heute Abend rief der Rektor hier an und forderte mich auf, zu überlegen, ob ich bereit sei, am 12. Juli die Festrede zu halten bei der Einweihungsfeier des Lichthofs der Universität, in den die Geschwister Scholl damals die Aufrufe gegen Hitler hinuntergeworfen hatten, und das Denkmal für die sechs im gleichen Lichthof. Ich hatte gleich das Gefühl, das tun zu müssen. Es ist wohl nicht gleichgültig, wie die Rede ausfallen wird, die vor einer großen akademischen, aber auch offiziellen Hörerschaft gehalten werden soll. Also muß ich die Sache gut überlegen. Meine persönliche Situation wird dadurch nicht einfacher. Vielleicht über die Verpflichtung gegen die Geschichte, angesichts der Gleichgültigkeit gegen die Geschichte der Zeit in Westdeutschland. Immer mehr wird die Haltung geschichtslos: Geld, Vergnügen, Technik, Sport ... Bei der Feier für die Geschw. Scholl am vergangenen Samstagabend seien etwa 150 Studenten und ein Dutzend Professoren dagewesen. Bei der Versammlung wegen des Gitterspruchs im Lichthof (Dulce et decorum ...) waren es zwischen 2500-3000. Da ging es aber auch um Krachmachen.“'' | ||
Version vom 23. Juli 2025, 10:59 Uhr
Otl Aichers Quickborn-Verbindungen
Otl Aicher, Inge Scholl und die Guardini-Lektüre der Scholl-Geschwister
Der Maler Wilhelm Geyer und seine Frau
Die Ulmer Bekanntschaft
Das Atelier Eickemeyer
Otl Aicher, Carl Muth und die „Weiße Rose“ - ab Frühjahr 1941
Der Münchener Freundeskreis um Hans Scholl: Schmorell und Probst
Begegnungen und Lesungen mit Theodor Haecker, Fedor Stepun, von Alfred von Martin (ab Januar 1942)
Theodor Haecker
Fedor Stepun
Alfred von Martin
Entwicklungen im Februar 1942
Mit Carl Muth
Das Verhör von Vater Robert Scholl im Februar 1942
Entwicklungen ab April 1942, vor allem Sophie Scholls Studienbeginn
Sophie Scholl, Carl Muth, Josef Gieles und Maria Loesch-Berrsche
Die Zimmer in der Mandlstraße
Josef Gieles
Der Bachchor und die Abende bei den Mertens
Ottmar Hammerstein, das Quartett und der Bachchor
Regina Renner
Gertrud Mertens
Kurt Huber und Sigismund von Radecki
Namenlose evangelische Studentin der Kunstgeschichte und Archäologie aus Preußen
Willi Graf, die „Weiße Rose“ und die Guardini-Lektüre (ab Juni 1942)
- siehe dazu entsprechende Abschnitte in Fritz Leist und Willi Graf
Die Zeit der ersten vier Flugblätter
Die Verhaftung Robert Scholls und die Einstellung des Windlichts
Die Zeit von November 1942 bis Ende Januar 1943
Das fünfte und sechste Flugblatt und die letzten Tage
Die Buchhandlung Rieck in Aulendorf
Weitere Entwicklungen von Herbst 1943 bis Kriegsende
Die Kontakte von Muth zu Weiger und Guardini (1943/45)
Das restliche Jahr 1943
Das Jahr 1944
Das Jahr 1945 bis Kriegsende
Kontaktaufnahme Otl Aichers zu Guardini nach Kriegsende
„Die Waage des Daseins“ – Guardinis Münchner Gedächtnisrede für die Geschwister Scholl
Inge Scholl und Simon Anton Schorer (Eichstätter und Konnersreuther Kreis)
Die Volkshochschule Ulm (1945/46)
Über Aichers Mitarbeit bei der geplanten Neugründung der „Schildgenossen“ (1947)
Inge Scholl und die Gesellschaft Oberschwaben (1947)
Die Volkshochschule Ulm und Guardinis „Vom Wesen des Kunstwerks“ (1947)
Weiterere Vorträge Guardinis in Ulm von 1947 bis 1949
Vorarbeiten zur „Geschwister-Scholl-Schule“ für Gestaltung (1949)
Die Ulmer und der 65. Geburtstag Romano Guardinis (1950)
Verteidigung der Familie Scholl gegen Kommunismus-Vorwürfe (1951)
Guardini traut Inge Scholl und Otl Aicher (1952)
Vortrag in Ulm: Die Annahme seiner selbst (1953)
Kogons Plan zur Verfilmung des Lebens der Geschwister Scholl (1953)
Der Start der „Hochschule für Gestaltung“ (1953)
Guardini und die Erinnerungsstätte für die „Weiße Rose“ im Lichthof der Münchner Universität == Die Ulmer und der 70. Geburtstag Guardinis (1955)
Die offizielle Eröffnung der "Hochschule für Gestaltung" und erste finanzielle Schwierigkeiten (1955/56)
Das 10jährige Jubiläum der Ulmer Volkshochschule und Guardinis Vortrag über „Das Wesen des Interpretierens“ (1956)
Der endgültige Rückzug Max Bills (1957) und der altersbedingte Rückzug Guardinis aus den Hochschulgremien
Max Bill verließ 1957 die Hochschule auch als Lehrender. Im Nachlass von Guardini (B23/02-04-6) findet sich ein Brief von Inge Aicher-Scholl an Guardini vom 10. April 1957 mit der Mitteilung, dass Max Bill sich von der Hochschule zurückziehen wird. Sie begründet das gegenüber Guardini damit, daß dieser sich nicht "als fähig zur Teambildung gezeigt" habe. Dies habe Gropius als vorhersehbar bestätigt. Die entsprechende Vereinbarung zwischen Hochschule und Max Bill vom 12. März 1957 lag als Anlage bei.
Guardini hat sich bald darauf - wann genau ist noch nicht ermittelt - ebenfalls aus den Gremien der Hochschule zurückgezogen, wohl vor allem aus gesundheitlichen und Altersgründen.
Guardinis zweite Gedächtnisrede auf die Weiße Rose: „Es lebe die Freiheit“ (1958)
In seinem Tagebucheintrag vom Montag den 24. Februar 1958 schreibt Guardini selbst zum Entstehen seiner Rede: „Heute Abend rief der Rektor hier an und forderte mich auf, zu überlegen, ob ich bereit sei, am 12. Juli die Festrede zu halten bei der Einweihungsfeier des Lichthofs der Universität, in den die Geschwister Scholl damals die Aufrufe gegen Hitler hinuntergeworfen hatten, und das Denkmal für die sechs im gleichen Lichthof. Ich hatte gleich das Gefühl, das tun zu müssen. Es ist wohl nicht gleichgültig, wie die Rede ausfallen wird, die vor einer großen akademischen, aber auch offiziellen Hörerschaft gehalten werden soll. Also muß ich die Sache gut überlegen. Meine persönliche Situation wird dadurch nicht einfacher. Vielleicht über die Verpflichtung gegen die Geschichte, angesichts der Gleichgültigkeit gegen die Geschichte der Zeit in Westdeutschland. Immer mehr wird die Haltung geschichtslos: Geld, Vergnügen, Technik, Sport ... Bei der Feier für die Geschw. Scholl am vergangenen Samstagabend seien etwa 150 Studenten und ein Dutzend Professoren dagewesen. Bei der Versammlung wegen des Gitterspruchs im Lichthof (Dulce et decorum ...) waren es zwischen 2500-3000. Da ging es aber auch um Krachmachen.“
Tatsächlich hielt Guardini die Rede unter dem Titel "Leben und Geschichte". Veröffentlicht wurde sie unter dem Scholl-Wort: "Es lebe die Freiheit" noch im gleichen Jahr im Jahrbuch der Universität. Guardini verwies zu Beginn der Rede auf den Lichthof als "eine Stätte ernsten Gedenkens", in dem sich "ein Vorgang zugetragen" habe, "der vor fünfzehn Jahren für sieben Angehörige dieser Universität - Professor Kurt Huber, die Studenten Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf und Hans Carl Leipelt - zum Signal für die tragische Wende ihres Lebens geworden ist. Von der Brüstung dort oben im ersten Stock haben Sophie und Hans Scholl die Aufrufe abgeworfen, in denen der Kampf ihres Freundeskreises um die Freiheit seinen letzten Ausdruck gefunden hat. Sie wußten, daß darauf die Gefangennahme folgen müsse. Das geschah denn auch, und das Ende für sie alle war der Tod. Ein kleiner Vorgang unter unzähligen anderen in jenen Jahren, die über Deutschland so viel Dunkelheit gebracht haben, weil in ihnen weder Recht, noch Wahrheit, noch Freiheit mehr zu gelten schienen. So hat die Feier der Vollendung dieses Lichthofs ihren eigentlichen Sinn in der Enthüllung des Denkmals für jene gefunden, die mit ihrem Leben für das eingestanden sind, was ihnen das Leben lebenswürdig machte - was aber auch die Grundlage für alles das bildet, wofür unsere Universität stehen muß, solange sie ihres Namens würdig sein will“ (Freiheit und Verantwortung, S. 21)
Im weiteren Verlauf der Rede deutet Guardini die von seiner Schwester berichteten letzten Worte von Hans Scholl vor seinem Tod: „Es lebe die Freiheit!" Für ihn bedeuteten sie "die Rechtfertigung seines Tuns". Für die Nachwelt dagegen "sind sie ein Testament", weshalb es zu bedenken gelte, "was sie meinen" (ebd., S. 22) Guardini charakterisiert im weiteren Verlauf dieses Wort von Hans Scholl als "verhüllte Prophetie": "Es hat mehr bedeutet als nur den Protest eines großgesinnten Herzens gegen die Gewalt, die in Deutschland herrschte. Ihrem tieferen, ihm selbst noch nicht bewußten Sinn nach richtete sich sein Freiheitsruf nicht nur gegen ein aus Machtbesessenheit und irrer Phantastik lebendes System, sondern gegen eine viel größere Bedrohung, die schon lange unterwegs war. Was damals politisch geschah, bildete die erste Ausdrucksform von etwas, das sich von tieferen Gründen der Geschichte her vorbereitete. Heute sehen wir es - ich will vorsichtiger sprechen: jene sehen es, die sehen wollen. Es ist die Gefahr einer Verknechtung, die aus dem Menschenwerk der letzten Jahrhunderte selbst aufsteigt (ebd., S. 27). Nach weiteren Erläuterungen betont Guardini: "So nimmt heute der Ruf „Es lebe die Freiheit!" eine neue Bedeutung an. Er wird zum Ausdruck einer tieferen Gefährdung als jene es war, aus der er damals gekommen ist. Den Ruf zu hören und ihm zu folgen, heißt, zu einem schwierigen Unternehmen bereit zu sein." (ebd., , S. 33). Und zum Abschluss ermahnt er sich und seine Zuhörer: "Die Ehrung, die wir den Menschen erweisen, die damals um der Freiheit willen ihr Leben gegeben haben, wird zu einer bloßen Geste, wenn wir nicht auch zu erkennen suchen, wo die Forderung der gleichen Freiheit für uns liegt, und bereit sind, sie zu erfüllen." (ebd., S. 37)
Kritische Betrachtung der Ulmer Hochschule im Spiegel (1963)
Nach sieben Jahren Rektoratskollegium trat 1962 eine neue Verfassung für die HfG in Kraft, die wieder einen alleinigen Rektor vorsah. Die Wahl fiel auf Otl Aicher, der in Folge dessen von 1962 bis 1964 Rektor war. In diese Zeit hinein fiel aber auch eine sehr kritische Betrachtung der Entwicklung der Ulmer Hochschule im Spiegel. In der Ausgabe vom 20. März 1963 heißt es unter dem Titel "Ulm: Auf dem Kuhberg": "Ein Blatt des Deutschen Gewerkschaftsbundes feierte sie als "Hochschule einer neuen Gesellschaftsordnung". Carl Zuckmayer nannte die Gründung "ein Ereignis, das über Deutschland und Europa hinaus ein Signum neuen Geistes ist". Der ähnlich enthusiasmierte John McCloy verhalf ihr zu einer Million Mark amerikanischer Subventionen, und Baden-Württembergs ehemaliger Kulturminister Schenkel frohlockte: "Das neue Bauhaus!" Keine andere Akademie-Neugründung im Nachkriegsdeutschland wurde mit mehr Vorschußlorbeeren bekränzt als die der "Hochschule für Gestaltung" (HfG) in Ulm am 2. Oktober 1955. Keine Gründung hat aber auch so viel mehr versprochen als gehalten, keine andere akademisch-künstlerische Lehr- und Forschungsanstalt wurde bis auf den heutigen Tag von so vielen Krisen und Querelen heimgesucht, von Mitgründern und Mitarbeitern so scharf kritisiert wie das von der "Geschwister -Scholl-Stiftung" getragene Unternehmen auf dem Ulmer Oberen Kuhberg. Nach der Meinung des kleinschreibenden Züricher Malers, Architekten und Designers Max Bill - Erbauer und erster Rektor der Kuhberg-Akademie - haben "dilettantische fantasten und tüchtige nutznießer sich der ehemals guten sache bemächtigt". Nach Ansicht des amerikanischen Psychologie-Professors Perrine, der von 1958 bis 1961 an der HfG dozierte, "kann die Ulmer Schule den Rang einer Hochschule kaum mehr für sich in Anspruch nehmen". Perrine, dessen von der Ford-Stiftung finanzierte "Forschungsstelle für optische Wahrnehmung" an der Ulmer Schule 1961 einging, schrieb im vergangenen Jahr an den Verwaltungsrat der Geschwister-Scholl-Stiftung: "Der gut Ruf, den Ulm sicher einmal zu Recht besaß, ist heute nur noch eine dünne Fassade aus ein paar Braun-Geräten, Möbeln und Tassen.""
Es folgt eine "Analyse", dass der Ruf der "Ulmer Designer-Akademie" darauf gründet, dass die Ulmer Gestalter, vor allem Hans Gugelot, 1955/56 dem Frankfurter Radio- und Elektrogeräte-Firma Braun ein neues, kompromißlos modernes Image gegeben habe, deren Formgebung auf mehreren internationalen Ausstellungen preisgekrönt wurde, was zu Nachfolgeaufträgen durch die Badische Anilin-, und Soda-Fabrik (BASF), durch Olivetti und Krupp, durch die Farbwerke Hoechst, durch die Hamburger Hochbahn und durch die Lufthansa führte. Diese seien nun aber in einem von Hans Gugelot geleiteten "Institut für Produktentwicklung und Design e.V." in Neu-Ulm gebündelt, während der Leiter Gugelot dem eigentlichen Hochschulbetrieb nur noch als Gastdozent verbunden sei. Aus der HfG dagegen habe es 1962 mehrere Krisensignale gegeben.
- "drei Rektoratswechsel die Einführung einer neuen Schulverfassung und damit verbundene Mißhelligkeiten im Lehrkörper;
- zwei Protestaktionen von HfG-Studenten, bei denen gegen die angeblich "undemokratische" neue Verfassung polemisiert wurde und Transparente mit der Parole "Weniger kalter Krieg - mehr Ausbildung!" gezeigt wurden.
Der Unmut der Studierenden wurzelt auch darin, dass nur ein Bruchteil der im Prospekt für die Zeit nach dem einjährigen Grundkurs versprochenen fünf Ausbildungswege für Produktform, Architektur, Stadtbau, Visuelle Kommunikation, Information tatsächlich angeboten wird. Die Abteilung Stadtbau wurde wiederholt als "im Aufbau" angekündigt worden, sei aber bis dato nicht zustande gekommen, die Abteilung Information zwar zustande gekommen, aber verkümmert und zusammengeschrumpft. Im zweiten und dritten Studienjahr fiel ein vorgesehenes Seminar monatelang aus. Das für das dritte Studienjahr der Abteilung Visuelle Kommunikation angekündigte Fach "Experimentelle Technologie" fiel im ersten Quartal des laufenden Lehrjahres mangels Dozenten aus. Die für das vierte Studienjahr im Ulmer Lehrplan für alle Fächer in Aussicht gestellte "Abteilungsarbeit" finde nicht statt. Gegenüber der Politik sei im Blick auf anstehende Verhandlungen über den Aufbau eines Filminstituts in den Abteilungen Information und Visuelle Kommunikation eine Filmabteilung "beschildert" worden, die Schilder nach der Abreise de CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Martin allerdings wieder entfernt worden, weshalb sowohl Studenten als auch Dozenten den HfG-Lehrplan und Lehrbetrieb als "Hochstapelei" und "Potemkinade" klassifizieren würden. Besonders kritisch äußert sich der HfG-Dozent Gert Kalow über den "kalten Krieg" in der Hochschule und wird zitiert mit der Aussage: "Der 'Ulmer Stil', der das Klima innerhalb der Hochschule charakterisiert, besteht aus Unfreundlichkeit, Mißgunst, Kälte, gegenseitigem Haß, Unfähigkeit miteinander zu reden - längst ein Skandal, nur noch notdürftig gedeckt durch den Namen Geschwister Scholl." Damit habe sich das "Kuhberg-Klima" weit von den idealen Vorstellungen der Gründer und Gönner der Hochschule entfernt. Zunächst hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln der Vereinigten Staaten von Amerika und Spender-Millionen von McCloy sowie von deutschen Firmen und Verwaltungsstellen finanziert, werde die Hochschule heute überwiegend von deutschen Steuergeldern von Land, Bund und Stadt Ulm (1.050.000 Mark) und von Studiengebühren und Auftragshonoraren (ca. 500000 Mark) finanziert, was bis auf 0 im Jahr 1962 zurückgegangen sei, seien allerdings die Spenden aus der Industrie. Ausführlich wird die Leitung, Verwaltung und Beratung der Hochschule beschrieben, die planmäßig nicht mehr als 150 Studierende aufnehmen sollte und aktuell von 118 Studenten, darunter 41 Ausländer, besucht werde. Die schleichenden Krise wird nun im Spiegel-Artikel auf das Gerangel um die Leitung geschoben, das schon ein halbes Jahr nach dem Einzug ins neue Hochschulgebäude damit begonnen habe, dass nach dem zunächst als freiwillig kommunizierten Rückzug von Max Bill, der dies im Nachhinein aber als Verdrängung "auf perfide Weise" darstellt, seine "Schüler" Otto Aicher das Rektorat und Tomás Maidonado das Prorektorat übernommen haben. Letzterem gab Bill die Hauptschuld daran, "daß ernste Meinungsverschiedenheiten über den Kurs der Hochschule bestehen." Aicher wird im Artikel wiederum mit einer Aussage über Bill zitiert: "Sein Abgang war kein Verlust für uns. Die größten Leistungen der HfG entstanden erst hinterher." Die Kritik des Spiegels am Rektorat von Aicher und Maidonado, die die Fächer Visuelle Kommunikation und Produktgestaltung betreuen, besteht nun darin, sich als Dozenten bislang nicht der von ihnen selbst proklamierten Devise unterworfen zu haben nach der die HfG "kein Altersheim" sei und es deshalb "eine gewisse Rotierung von Dozenten-Persönlichkeiten geben" müsse. Die beiden hätten sich im sich daher rasch verändernden Ulmer Dozentenkollegium an die Spitze der HfG-Hierarchie emporgearbeitet, ohne - laut dem Dozenten Kalow - "ein neuer Gropius" zu sein. Diese Kritik habe aber 1957 in einem Essay von Helmut Heißenbüttel auch schon Max Bill getroffen. Heißenbüttel habe "die Doktrin des Form-Puristen Max Bill als unpädagogische "Glaubenslehre", als schultechnisch wertloses "Dogma" und das allgemeine HfG-Programm mit seinem totalen Formgebungsanspruch als "schönen kulturpolitischen Luftballon, der sich unverbindlich über den praktischen Anforderungen dahinbewegt", bezeichnet, das mit den tatsächlichen Leistungen der Schule nicht übereinstimme. Abschließend beschäftigt sich der Artikel mit der am 15. Dezember 1962 erlassenen neuen Verfassung, die nunmehr zwischen ordentlichen und außerordentlichen Dozenten unterscheide, wobei zu ordentlichen Dozenten nur jene zählen, die Gestalter bzw. Designer sind. Nur aus diesen ordentlichen Dozenten kann der Rektor und Prorektor gewählt werden. Nach dem Tod des Dozenten Vordemberge-Gildewart, einem Maler, gäbe es neben den "HfG-Veteraen" Aicher und Maldonado nur noch einen weiteren ordentlichen Dozenten, während die anderen fünf Festdozenten, die Architekten Doernach und Ohl, der Mathematiker Rittel, der Photograph Staub und der Publizist Kalow, alle frühere Mitglieder des Rektoratskollegiums, sich durch die neue Verfassung zu "Lehrkräften zweiten Ranges degradiert" fühlten, die nicht mehr Rektor werden könnten. Auch der Ulmer Gastdozent und Chefredakteur von Radio Bremen, Harry Pross, wird mit dem Urteil zitiert: "Im ganzen ist diese Verfassung eine ins 20. Jahrhundert verpflanzte mittelalterliche Rektoratsverfassung. Bei der kleinen Anzahl von Studenten und Dozenten hat sie etwas Lächerliches." Aicher dagegen sieht in der neue Verfassung im Unterschied zur alten für geeigneter, "bei internen Spannungen klärend zu wirken". Durch den Boykott der Rektoratswahl durch die Hälfte der wahlberechtigten Dozenten sowie der Vertreter der Studentenschaft, verbunden mit der in einem Eilbrief der Ulmer Studentenvertretung an den Kulturpolitischen Ausschuß des Baden-Württembergischen Landtags in Stuttgart erhobenen Forderung nach einer "Verfassung, die den demokratischen Gepflogenheiten unseres Staates und dem intellektuellen Niveau einer Hochschule gerecht wird", scheint der erwartete Neubeginn und die erhoffte Stabilität ungewiß zu sein. Der Artikel endet mit der Prognose: "Eine Eruption, die das Ulmer Kuhberg-Werk möglicherweise bis zum Zusammenbruch erschüttern könnte, sagen HfG-Dozenten für den Tag voraus, "an dem Prorektor Tomás Maldonado das Rektoramt besetzt". Hier endet der Artikel. Tomás Maldonado war dann von 1964 bis 1966 tatsächlich Rektor der Hochschule, in dessen Rektoratszeit sich auch, wie vorhergesagt, die politische und finanzielle Krise der HfG weiter zuspitzte.
Die Ulmer und der 80. Geburtstag Romano Guardinis (1965)
Inwieweit Guardini in diese Problematiken noch mitbekommen hat oder gar einbezogen wurde, konnte bislang nicht festgestellt werden. Die Geburtstagsgrüße der Aichers und Scholls zum 80. Geburtstag enthalten anders als die vorherigen keine Bezüge mehr auf Guardinis Tätigkeit in Volkshochschule und Hochschule, sondern spricht nur noch, wenn auch sehr familiär von den „Ulmer Kindern“ Guardinis.
In der Bayerischen Staatsbibliothek finden sich:
- B3-3-003: handschriftlicher Brief von Inge Aicher-Scholl vom 16. Februar 1965 (2 Seiten)
- B4-3-148: handschriftliche Glückwunschkarte von Robert Scholl an Guardini, o.J. (1965) (1 Seite)
Im Ulmer Monatsspiegel, herausgegeben von der Ulmer Volkshochschule, sind zum Geburtstag zwei Beiträge erschienen:
- („Was ist Wahrheit?“). Zum Geburtstag von Romano Guardini, in: Ulmer Monatsspiegel, hrsg. von der Ulmer Volkshochschule, 16, 172, 1964/65, 7 (März), S. 3-4 (verantwortlich Inge Aicher-Scholl) (mit Einzelheiten zu Guardinis Mitarbeit an der Volkshochschule Ulm) [Gerner 192, ohne Titel „Was ist Wahrheit?“] und [Gerner 254] - [Artikel] - [noch nicht online]
- Der Lehrer von zwei Generationen, in: Ulmer Monatsspiegel, hrsg. von der Ulmer Volkshochschule, 16, 172, 1965, 7 (März), S. 5-6 (verantwortlich Inge Aicher-Scholl) [Gerner 192] - [Artikel] - [noch nicht online]; vermutlich stammt der Beitrag von Eugen Walter, denn unter dem gleichen Titel findet sich:
- Eugen Walter: Der Lehrer von zwei Generationen. Zum 80. Geburtstag von Romano Guardini, in: Der christliche Sonntag, Freiburg, 17, 1965, 7, 14. Februar, S. 53-54 [Mercker 2591] - [Artikel] - [noch nicht online]
- Der Lehrer von zwei Generationen, in: Tag des Herrn, Leipzig, 15, 1965, 11/12 (13. März 1965), S. 42 [Gerner 192] - [Artikel] - [noch nicht online]
In der Ulmer Schwäbische Donauzeitung findet sich zum Geburtstag ein Beitrag von K. Wieder:
- K. Wieder: Kulturleben ohne provinzielle Enge, in: Schwäbische Donauzeitung, Ulm, 1965, 103 (6. oder 8.??? Mai 1965), Sonderbeilage: Ulm 1945-1965; darin: Hinweis auf den ersten öffentlichen Vortrag „Was ist Wahrheit?“ in Ulm nach 1945 mit Referent Romano Guardini in der Martin-Luther-Kirche [Gerner 254] - [Artikel] - [noch nicht online]
Das Ende der "Hochschule für Gestaltung" im Todesjahr Guardinis (1968)
1966 wurde Tomás Maldonado als Rektor abgelöst von Herbert Ohl, der bereits von 1959 bis 1962 Mitglied des Rektoratskollegiums war. Er trat das Amt an, als bereits bekannt war, dass die Geschwister-Scholl-Stiftung als Träger der HfG, stark verschuldet war.
Im Laufe des Jahres 1968 mussten die ersten Dozenten aufgrund der schwierigen finanziellen Lage entlassen und die Anzahl der Lehrveranstaltungen eingeschränkt werden. Nach erfolglosen Verhandlungen über die weitere Gewährung von Landes- und Bundesmitteln stellte die Geschwister-Scholl-Stiftung den Betrieb der Hochschule zum 31. Dezember 1968 ein.
Nachwirkungen der "Hochschule für Gestaltung"
Als erste Institution übernahm die 1970 in Hochschule für Gestaltung umbenannte Hochschule in Offenbach am Main große Teile des Lehrkonzepts der HfG Ulm. Nach Ulm war sie die einzige Hochschule, die die vom Bauhaus übernommene Bezeichnung "Hochschule für Gestaltung" trug. Erst später folgten noch weitere Lehrstätten.
Literaturverzeichnis (chronologisch)
- 1984
- Inge Jens (Hrsg.): Hans Scholl/Sophie Scholl: Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Inge Jens, 1984, zu Romano Guardini S. 53 und 252. (Hans Scholl und Guardinis "Hölderlin-Buch") [neu aufgenommen] - [Monographie] - [noch nicht online]
- Taschenbuchausgabe 1988, zu Romano Guardini S. 67 und 310 [neu aufgenommen] - [Monographie] - https://books.google.de/books?id=f80qAQAAMAAJ;
- (2)1994, zu Romano Guardini S. 10, 18, 37, 129, Literaturverzeichnis 253 und 256, Anmerkungen 266, 281 und 333 [neu aufgenommen] - [Monographie] - https://books.google.de/books?id=4acqAQAAMAAJ;
- Inge Jens (Hrsg.): Hans Scholl/Sophie Scholl: Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Inge Jens, 1984, zu Romano Guardini S. 53 und 252. (Hans Scholl und Guardinis "Hölderlin-Buch") [neu aufgenommen] - [Monographie] - [noch nicht online]
- 1985
- Otl Aicher: Innenseiten des Kriegs, Frankfurt am Main 1985, zu Romano Guardini S. 14 [neu aufgenommen] - [Monographie]/[Memoiren] - https://books.google.de/books?id=fhZMDwAAQBAJ;
- Hartmut Seeling: Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm 1953-1968. Ein Beitrag zur Entwicklung ihres Programms und der Arbeiten im Bereich der Visuellen Kommunikation, Phil. Dissertation, Köln 1985, zu Romano Guardini S. 19, 48 und 68 [Gerner 265] - [Monographie]/[Doktorarbeit] - https://books.google.de/books?id=vn1JAQAAIAAJ;
- 1992
- Josef Gieles: Studentenbriefe von 1939 bis 1942, 1992
- 1993
- Otl Aicher: Schreiben und Widersprechen. Zu Kultur und Design. Berichte aus der autonomen Republik 1990: Mecklenburg Herbst ´89. Politische Essays, 1993, S. 203 (gemeinsamer Spaziergang über den oberen Kuhberg im Jahr 1946, Gespräch über „Schule des Wiederaufbaus“) [neu aufgenommen] - [Monographie] - https://books.google.de/books?id=xyQjAQAAIAAJ;
- 1997
- René Michael Spitz: Die politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm (1953-1968), Köln Diss. 1997 - https://core.ac.uk/reader/12008608 und https://kups.ub.uni-koeln.de/437/1/11w750.pdf;
- 2000
- Barbara Schüler: „Im Geiste der Gemordeten...“ Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit. Paderborn 2000 (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 19)
- dazu: Rezension, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst, 2002, S. 459-461
- Berthold Gerner: Romano Guardini in München. Beiträge zu einer Sozialbiographie, Band 2: Referent am Vortragspult, München 2000, 6. Volkshochschule Ulm S. 397-432.
- Barbara Schüler: „Im Geiste der Gemordeten...“ Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit. Paderborn 2000 (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 19)
- 2002
- Barbara Schüler: Inge Scholl und Otl Aicher. Korrespondenzen und Kontakte zwischen Aulendorf und Ulm, in: Kuhn, Elmar L./Ritter, Brigitte/Bauer, Dieter R. (Hrsg.): Das große weite Tal der Möglichkeiten. Geist, Politik, Kultur 1945-1949. Das Projekt Gesellschaft Oberschwaben. Lindenberg 2002 (Oberschwaben – Ansichten und Aussichten), S. 117-130, FN S. 360f.
- 2012/14
- Barbara Ellermeier: Hans Scholl: Biographie, 2012
- 2013
- Christine Hikel (= Christine Friederich): Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose, 2013, zu Romano Guardini S. 58-61 (zu: Guardini, Die Waage des Daseins), 107, 147 (Verweis auf Guardinis Brief an Eugen Kogon vom 3. März 1953) und 169 (zu: Guardini, Es lebe die Freiheit) - https://books.google.de/books?id=gDfpBQAAQBAJ;
- 2014
- Notker Hammerstein: Aus dem Freundeskreis der »Weißen Rose": Otmar Hammerstein - Eine biographische Erkundung, 2014
- Eva Moser: Otl Aicher (1922-1991), Grafik-Designer. Leitmotive der Jugendbewegung in Lebenslauf und Selbstdeutung, in: Barbara Stambolis (Hrsg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen, 2014, S. 251ff.
- Robert M. Zoske: Sehnsucht nach dem Lichte – Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl: Unveröffentlichte Gedichte, Briefe und Texte, 2014
- 2016
- Stephan Kessler Stephan: Der stille Befehl: Widerstand und Opfergang einer bürgerlich und christlich geprägten Familie im NS-Staat 1933 bis 1945, 2016.
- 2017
- Christine Friederich: Widerstand als Glaubenstat? Religiöse Deutungen des Widerstands der Weißen Rose, in: Siegfried Hermle/Dagmar Pöpping (Hrsg.): Zwischen Verklärung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nach 1945, Göttingen 2017, S. 105-118, zu: Guardini, Die Waage des Daseins, S. 111f. (unter Rückgriff auf den Nachlass Inge Scholls im IfZ München) [Artikel] - https://books.google.de/books?id=L4vfDgAAQBAJ&pg=PA111