Die Waage des Daseins: Unterschied zwischen den Versionen

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402 (G 47/Topos 267 und Topos 705/OO VI): '''Die Waage des Daseins'''. Rede zum Gedächtnis von Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Prof. Dr. Huber, Tübingen/Stuttgart 1946 - 27 S. (Rede gehalten am 4. November 1945 in der Universität München) [Mercker 0639];
405 (G 47/Topos 267 und Topos 705/OO VI): '''Die Waage des Daseins'''. Rede zum Gedächtnis von Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Prof. Dr. Huber, Tübingen/Stuttgart 1946 - 27 S. (Rede gehalten am 4. November 1945 in der Universität München) [Mercker 0639];
 
== Hintergrund ==
Am 4. November 1945 findet zwei Jahre nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl und ihrer Gefährten in den Münchener Kammerspielen eine Feier zum Andenken an die Opfer der Münchener Studentenbewegung statt. Oberbürgermeister Scharnagl, Staatsminister Fendt und Professor Romano Guardini würdigten die Opfer des Naziterrors [Chronik der Stadt München 1945-1948, bearbeitet von Wolfram Selig, München, Stadtarchiv 1980.]. Guardini war von Inge Scholl und Otl Aicher darum gebeten worden, deren "Vertrauter" er bald nach dem Krieg im Kontext der [[Ulmer Volkshochschule]] (ab August 1945) und der [[Gesellschaft Oberschwaben]] in Aulendorf (ab September 1945) geworden war.
 
== Titel ==
Guardini gab seiner Gedächtnisrede den Titel “Die Waage des Daseins”. Das Bild der “Waage des Daseins” ist wohl inspiriert von [[Wilhelm Raabe]]s Text “Drei Federn. VI. Achtzehnhundertzweiundsechszig”, veröffentlicht 1865. Raabe ist einer der Lieblingsschriftsteller Guardinis. In dem Text spricht Raabe davon, dass ihm eine Seite der Schale leer geworden sei, weil die Gelassenheit entflohen sei. An ihre Stelle versuchte er das Laster des Geizes zu setzen, was aber fehl- und in Indolenz (Schmerzlosigkeit bzw. Schmerzfreiheit; im negativen Sinne auch Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen und Symptomen) umschlug, “die schlechtere Schwester der Gelassenheit”. “Und der Augenblick, wo sie den Platz den Kusinen Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit überließ, konnte nicht fern sein.” [https://www.projekt-gutenberg.org/raabe/3federn/dreifeder6c.html]
 
== Zentrale Inhalte ==
Zunächst legte Guardini sein Verständnis davon dar, wie andere Menschen gerecht zu betrachten sind. Es geht um ein “durch Liebe geleitetes und durch Besonnenheit überwachtes Bemühen, seine Persönlichkeit und seinen Lebensweg zu verstehen, immer tiefer ins Eigentliche vorzudringen, bis schließlich sein Wesen zu klarer Anschauung gelangt.” [Guardini, Die Waage des Daseins, a.a.O., S. 7] Maßgebliche Tugenden seien dabei also immer Liebe und Besonnenheit. Für den Fall, dass man jemanden nicht persönlich kenne, gelte es “nach den Ideen zu fragen, denen sie gedient haben, und nach den Werten, durch die sie sich verpflichtet wussten ...; denn der Mensch ist so geartet, dass er ebensoviel aus dem Grundsätzlichen und Ewigen wie aus dem Individuellen und Zeitlichen heraus lebt, oder aber es verrät und vernachlässigt, und dann ist er dadurch bestimmt.” [Ebd., S. 8.]
 
''wird noch vervollständigt''
 
== Wirkung der Rede ==
Insgesamt hinterließ die Rede einen so nachhaltigen Eindruck, dass sie zehn Jahre später im Sommersemester 1955 auf Anregung des Allgemeinen Studentenausschusses der Universität München nachgedruckt und jedem neu immatrikulierten Studenten überreicht wurde [Gerner, Bd. I, S. 574. Guardini, Romano: Die Waage des Daseins: zum Gedächtnis von Sophie u. Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Prof. Dr. Huber u. Hans Carl Leipelt, München : Allg. Studentenausschuß, ca. 1955, 18 S.]. Diese Ausgabe ist heute auch im Internet frei zugänglich - https://epub.ub.uni-muenchen.de/22502/1/254.pdf
 
Auch der politischer Gehalt der Rede wurde zunächst durchaus erkannt: Nur wenn die "Waage des Daseins" in allen drei Ausprägungen zwischen den Extremen steht, kündigt sich ein zeitloses Erfülltsein an: Im Umgang mit den materiellen Dingen zwischen Geiz und Verschwendung, in der Spannung von Freigebigkeit und Maßhalten; im Werk zwischen Überheblichkeit und Ängstlichkeit, in der Spannung von Mut und Demut, im Opfer zwischen Heroismus und Duckmäusertum in der Spannung von schöpferischer Freiheit und schöpferischem Gehorsam. Gerade auch das politische Handeln hängt von der rechten Verwaltung der Dinge, den Mut zum Anfang und die Demut zur Umkehr, die Bereitschaft zum Opfer, nicht zur heroischen geschichtsträchtigen Tat, nicht zur selbstentwürdigenden Unterordnung, sondern zum Einstehen für die Wahrheit des Daseins, für die “Freiheit des Geistes” dem Wissen gegenüber und für den “Gehorsam des Geistes” dem Gewissen gegenüber, jeweils sowohl im Blick auf die einzelne Person des Bürgers als auch auf das Ganze des Staates. Der Widerstand gegen Führer und Bewegungen, die das Ganze, die Idee des Staates, verraten, ist für den Christen nicht nur erlaubt, sondern geboten, ist aber nur möglich, wenn er sich über die Ordnungen des Daseins im Klaren ist und die “Waage des Daseins” immer vor Augen hat.


== Nachdrucke und Auszüge ==
== Nachdrucke und Auszüge ==
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== Guardini-Konkordanz ==
== Guardini-Konkordanz ==
* Topos 267/705, S. 7 - tps://guardini.mercker.de/showbookpub.php?pub=1&es=1&seite=uZE3IwICoTIY
* Topos 267/705, S. 7 - https://guardini.mercker.de/showbookpub.php?pub=1&es=1&seite=uZE3IwICoTIY


== Übersetzungen (in mind. 3 Sprachen) ==
== Übersetzungen (in mind. 3 Sprachen) ==
# ORG 35/ORGNS 4: Dicscoro Primo: La bilancia dell´ esistenza, in: La Rosa Bianca, 1994; (2)2005; Neuausgabe 2021, S. 33-45, ins Italienische übersetzt von [[Michele Nicoletti]] [irrtümliche Zuordnung der Rede nach Tübingen statt München] [neu aufgenommen];
# ORG 35/ORGNS 4: Dicscoro Primo: La bilancia dell´ esistenza, in: [[La Rosa Bianca]], 1994; (2)2005; Neuausgabe 2021, S. 33-45, ins Italienische übersetzt von [[Michele Nicoletti]] [irrtümliche Zuordnung der Rede nach Tübingen statt München] [neu aufgenommen];
## OO VI: La bilancia dell´ esistenza. Commemorazione di So-phie e Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf e Prof. Dr. Huber (Tübingen, 4 novembre 1945), in: Opera omnia VI. Scritti politici, Brescia 2005 (hrsg. von [[Michele Nicoletti]]), S. 347-356 [weiterhin irrtümliche Zuordnung der Rede nach Tübingen statt München] [neu aufgenommen]
## OO VI: La bilancia dell´ esistenza. Commemorazione di Sophie e Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf e Prof. Dr. Huber (Tübingen, 4 novembre 1945), in: Opera omnia VI. Scritti politici, Brescia 2005 (hrsg. von [[Michele Nicoletti]]), S. 347-356 [weiterhin irrtümliche Zuordnung der Rede nach Tübingen statt München] [neu aufgenommen]
# Váha l´udského bytia, in: Sloboda a zodpovednosť, 2001 (Dobrá kniha), S. 5-17, ins Slowakische übersetzt von [[Ľubor Králik]] [neu aufgenommen]
# Váha l´udského bytia, in: Sloboda a zodpovednosť, 2001 (Dobrá kniha), S. 5-17, ins Slowakische übersetzt von [[Ľubor Králik]] [neu aufgenommen]
# Unter dem Titel „Libertad y responsabilidad. La Rosa Blanca“, in: Escritos políticos, Madrid 2011, S. 13-26, ins Spanische übersetzt von [[José Mardomingo]] [neu aufgenommen]
# Unter dem Titel „Libertad y responsabilidad. La Rosa Blanca“, in: Escritos políticos, Madrid 2011, S. 13-26, ins Spanische übersetzt von [[José Mardomingo]] [neu aufgenommen]


== Digitale Version ==
== Digitalisate ==
* https://www.universitaetsarchiv.uni-muenchen.de/digitalesarchiv/rektoratsunduniversitatsreden/pdf/254.pdf
* Digitales Archiv des Universitätsarchivs der Uni München - https://www.universitaetsarchiv.uni-muenchen.de/digitalesarchiv/rektoratsunduniversitatsreden/pdf/254.pdf
* https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/XLPUPUKGXOVITNLVMESFYMJX2IWY7U4Y


[[Kategorie:Werke]]
[[Kategorie:Werke]]
[[Kategorie:Freiheit und Verantwortung]]
[[Kategorie:1946]]
[[Kategorie:1946]]
[[Kategorie:Vorträge 1945]]
[[Kategorie:Vorträge 1945]]
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[[Kategorie:Ins Spanische übersetzt]]
[[Kategorie:Ins Spanische übersetzt]]
[[Kategorie:Ins Slowakische übersetzt]]
[[Kategorie:Ins Slowakische übersetzt]]
[[Kategorie:Online-Digitalisat]]

Aktuelle Version vom 29. Oktober 2025, 00:39 Uhr

405 (G 47/Topos 267 und Topos 705/OO VI): Die Waage des Daseins. Rede zum Gedächtnis von Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Prof. Dr. Huber, Tübingen/Stuttgart 1946 - 27 S. (Rede gehalten am 4. November 1945 in der Universität München) [Mercker 0639];

Hintergrund

Am 4. November 1945 findet zwei Jahre nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl und ihrer Gefährten in den Münchener Kammerspielen eine Feier zum Andenken an die Opfer der Münchener Studentenbewegung statt. Oberbürgermeister Scharnagl, Staatsminister Fendt und Professor Romano Guardini würdigten die Opfer des Naziterrors [Chronik der Stadt München 1945-1948, bearbeitet von Wolfram Selig, München, Stadtarchiv 1980.]. Guardini war von Inge Scholl und Otl Aicher darum gebeten worden, deren "Vertrauter" er bald nach dem Krieg im Kontext der Ulmer Volkshochschule (ab August 1945) und der Gesellschaft Oberschwaben in Aulendorf (ab September 1945) geworden war.

Titel

Guardini gab seiner Gedächtnisrede den Titel “Die Waage des Daseins”. Das Bild der “Waage des Daseins” ist wohl inspiriert von Wilhelm Raabes Text “Drei Federn. VI. Achtzehnhundertzweiundsechszig”, veröffentlicht 1865. Raabe ist einer der Lieblingsschriftsteller Guardinis. In dem Text spricht Raabe davon, dass ihm eine Seite der Schale leer geworden sei, weil die Gelassenheit entflohen sei. An ihre Stelle versuchte er das Laster des Geizes zu setzen, was aber fehl- und in Indolenz (Schmerzlosigkeit bzw. Schmerzfreiheit; im negativen Sinne auch Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen und Symptomen) umschlug, “die schlechtere Schwester der Gelassenheit”. “Und der Augenblick, wo sie den Platz den Kusinen Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit überließ, konnte nicht fern sein.” [1]

Zentrale Inhalte

Zunächst legte Guardini sein Verständnis davon dar, wie andere Menschen gerecht zu betrachten sind. Es geht um ein “durch Liebe geleitetes und durch Besonnenheit überwachtes Bemühen, seine Persönlichkeit und seinen Lebensweg zu verstehen, immer tiefer ins Eigentliche vorzudringen, bis schließlich sein Wesen zu klarer Anschauung gelangt.” [Guardini, Die Waage des Daseins, a.a.O., S. 7] Maßgebliche Tugenden seien dabei also immer Liebe und Besonnenheit. Für den Fall, dass man jemanden nicht persönlich kenne, gelte es “nach den Ideen zu fragen, denen sie gedient haben, und nach den Werten, durch die sie sich verpflichtet wussten ...; denn der Mensch ist so geartet, dass er ebensoviel aus dem Grundsätzlichen und Ewigen wie aus dem Individuellen und Zeitlichen heraus lebt, oder aber es verrät und vernachlässigt, und dann ist er dadurch bestimmt.” [Ebd., S. 8.]

wird noch vervollständigt

Wirkung der Rede

Insgesamt hinterließ die Rede einen so nachhaltigen Eindruck, dass sie zehn Jahre später im Sommersemester 1955 auf Anregung des Allgemeinen Studentenausschusses der Universität München nachgedruckt und jedem neu immatrikulierten Studenten überreicht wurde [Gerner, Bd. I, S. 574. Guardini, Romano: Die Waage des Daseins: zum Gedächtnis von Sophie u. Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Prof. Dr. Huber u. Hans Carl Leipelt, München : Allg. Studentenausschuß, ca. 1955, 18 S.]. Diese Ausgabe ist heute auch im Internet frei zugänglich - https://epub.ub.uni-muenchen.de/22502/1/254.pdf

Auch der politischer Gehalt der Rede wurde zunächst durchaus erkannt: Nur wenn die "Waage des Daseins" in allen drei Ausprägungen zwischen den Extremen steht, kündigt sich ein zeitloses Erfülltsein an: Im Umgang mit den materiellen Dingen zwischen Geiz und Verschwendung, in der Spannung von Freigebigkeit und Maßhalten; im Werk zwischen Überheblichkeit und Ängstlichkeit, in der Spannung von Mut und Demut, im Opfer zwischen Heroismus und Duckmäusertum in der Spannung von schöpferischer Freiheit und schöpferischem Gehorsam. Gerade auch das politische Handeln hängt von der rechten Verwaltung der Dinge, den Mut zum Anfang und die Demut zur Umkehr, die Bereitschaft zum Opfer, nicht zur heroischen geschichtsträchtigen Tat, nicht zur selbstentwürdigenden Unterordnung, sondern zum Einstehen für die Wahrheit des Daseins, für die “Freiheit des Geistes” dem Wissen gegenüber und für den “Gehorsam des Geistes” dem Gewissen gegenüber, jeweils sowohl im Blick auf die einzelne Person des Bürgers als auch auf das Ganze des Staates. Der Widerstand gegen Führer und Bewegungen, die das Ganze, die Idee des Staates, verraten, ist für den Christen nicht nur erlaubt, sondern geboten, ist aber nur möglich, wenn er sich über die Ordnungen des Daseins im Klaren ist und die “Waage des Daseins” immer vor Augen hat.

Nachdrucke und Auszüge

  • auch in: Colloquium. Zeitschrift für junge Akademiker, 1, 1947, 2 (Juni 1947), S. ??? [neu aufgenommen]
  • Auszug unter dem Titel „Im Mitvollzug der Gesinnung Christi“, in: Badische Neueste Nachrichten, Karlsruhe, 2, 1947, 109 (13. September 1947), S. 4 [Gerner 44];
  • auch in: Carl Georg Heise/Ernst L. Hauswedell/Hans-Ulrich Instinsky/Johannes Pfeiffer (Hrsg.): Deutsche Stimmen 1945-1946, Hamburg 1948, S. 44-51 [Mercker 0716];
  • auch in: Allgemeiner Studentenausschuß der Universität München (Hrsg.): Die Waage des Daseins, 1955, S. 9-19 [Mercker 1063];
  • Zitat „Niemand kann sagen …“, in: Die Weiße Rose. Ausstellung über den Widerstand gegen Hitler München 1942/43, München o.J. [1992] [neu aufgenommen]
  • eingegangen in: Freiheit und Verantwortung, 1997 (Topos Taschenbücher 267/705) [neu aufgenommen]
  • eingegangen in: 1945. Worte zur Neuorientierung, 2015 (G 47) [neu aufgenommen]

Guardini-Konkordanz

Übersetzungen (in mind. 3 Sprachen)

  1. ORG 35/ORGNS 4: Dicscoro Primo: La bilancia dell´ esistenza, in: La Rosa Bianca, 1994; (2)2005; Neuausgabe 2021, S. 33-45, ins Italienische übersetzt von Michele Nicoletti [irrtümliche Zuordnung der Rede nach Tübingen statt München] [neu aufgenommen];
    1. OO VI: La bilancia dell´ esistenza. Commemorazione di Sophie e Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf e Prof. Dr. Huber (Tübingen, 4 novembre 1945), in: Opera omnia VI. Scritti politici, Brescia 2005 (hrsg. von Michele Nicoletti), S. 347-356 [weiterhin irrtümliche Zuordnung der Rede nach Tübingen statt München] [neu aufgenommen]
  2. Váha l´udského bytia, in: Sloboda a zodpovednosť, 2001 (Dobrá kniha), S. 5-17, ins Slowakische übersetzt von Ľubor Králik [neu aufgenommen]
  3. Unter dem Titel „Libertad y responsabilidad. La Rosa Blanca“, in: Escritos políticos, Madrid 2011, S. 13-26, ins Spanische übersetzt von José Mardomingo [neu aufgenommen]

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