Romano Guardini und Thomas Mann: Unterschied zwischen den Versionen
| Zeile 110: | Zeile 110: | ||
Laut Mercker-Bibliographie [Mercker 2312] existiert auch ein Bericht von [[Antonia Carl]] unter dem Titel "Gastmähler des Geistes" in der Zeitschrift "Die christliche Frau" (Köln, 40, 1951, 2, S. 54-56, hier S. 55) über den Vortrag Guardinis auf den Salzburger Hochschulwochen 1951: Über religiöse Dichtung der Neuzeit. Auch darin wird die Auseinandersetzung mit „Josef und seine Brüder“ von Thomas Mann erwähnt. Der Artikel liegt mir aber nicht vor. | Laut Mercker-Bibliographie [Mercker 2312] existiert auch ein Bericht von [[Antonia Carl]] unter dem Titel "Gastmähler des Geistes" in der Zeitschrift "Die christliche Frau" (Köln, 40, 1951, 2, S. 54-56, hier S. 55) über den Vortrag Guardinis auf den Salzburger Hochschulwochen 1951: Über religiöse Dichtung der Neuzeit. Auch darin wird die Auseinandersetzung mit „Josef und seine Brüder“ von Thomas Mann erwähnt. Der Artikel liegt mir aber nicht vor. | ||
== Thomas Manns Reaktion auf Guardinis Kritik | == Thomas Manns Reaktion auf Guardinis Kritik == | ||
Unabhängig von einer persönlichen Begegnung hat Guardini aber offensichtlich in einem seiner beiden Vorträge bei den Hochschulwochen tatsächlich einen Exkurs zu Thomas Mann gemacht, der sowohl in der Presse Erwähnung fand als auch eine Reaktion von Thomas Mann auslöste. Guardini kritisierte dabei wohl Thomas Manns Mythisierung der Josephsgeschichte als „Verfall des Wahrheitsgefühls“ (TS 17.8.1951). Der gesamte Vorgang ist aber noch näher zu betrachten und erforschen. | Unabhängig von einer persönlichen Begegnung hat Guardini aber offensichtlich in einem seiner beiden Vorträge bei den Hochschulwochen tatsächlich einen Exkurs zu Thomas Mann gemacht, der sowohl in der Presse Erwähnung fand als auch eine Reaktion von Thomas Mann auslöste. Guardini kritisierte dabei wohl Thomas Manns Mythisierung der Josephsgeschichte als „Verfall des Wahrheitsgefühls“ (TS 17.8.1951). Der gesamte Vorgang ist aber noch näher zu betrachten und erforschen. | ||
Version vom 15. November 2025, 01:28 Uhr
1904-1906
Romano Guardini erinnert sich bei der Abfassung seiner Berichte über mein Leben im dritten Durchgang (Geistige Entwicklung und schriftstellerische Arbeit (7.3.45), in: KAB-Archiv-Nr. 152.) für seine Münchener und Berliner Studienzeit (Wintersemester 1904/05 bis Wintersemester 1905/06) an seine Beschäftigung mit Thomas Manns Werken:
- "Auch für das literarische Kunstwerk ist mir damals der Sinn aufgegangen, und zwar war dafür sowohl in München wie in Berlin der Freundeskreis wichtig, in welchem ich verkehrte: zum Teil selbst produktive Leute. Im Gespräch mit ihnen lernte ich die Dichtung nicht nur als fertigen Gegenstand verstehender Bemühung zu sehen, sondern ich bekam Fühlung mit dem Vorgang des Entstehens selbst. Das ist für mich wahrscheinlich wichtiger geworden, als mir damals zu Bewußtsein kam, denn auf diesem Gebiete sollte ja später meine eigene Produktivität einsetzen. Und zwar war es zunächst die Literatur der damaligen Zeit, also die Autoren um die neue Rundschau. Den stärksten Eindruck hat auf mich Thomas Mann gemacht. Die Intensität des gestaltenden Vorganges, die in seinem Werk liegt, hat mich stark beeindruckt. [...]. Wenn ich recht sehe, hatten meine psychologischen Bemühungen zwei Ansatzpunkte: der eine hing mit der sehr stark psychologisch bestimmten Literatur der Zeit zusammen. Die Gespräche unseres Kreises suchten immer wieder einen Menschen oder eine Situation zu verstehen und das Wesentliche davon auszusprechen. Und über Autoren wie Thomas Mann wird man sagen können, was man will; so viel ist sicher, daß in ihnen eine ungeheure Feinheit und Präzision der psychologischen Analyse steckt." (zitiert nach Zenz bzw. Wendt)
In diesem Zeitraum erschien von Thomas Mann in der "Neuen Rundschau" dessen Theaterstück "Fiorenza" (in: Die neue Rundschau, Juli/August 1905).
In seinen Ethik-Vorlesungen bestätigt er diese Beschäftigung: "Thomas Mann war ein großer Künstler. Als ich studierte, war es für uns immer ein Ereignis, wenn etwas Neues von ihm erschien." (Ethik, S. 808)
Da Guardini seine frühe Bibliothek ab 1927 als Leihgabe nach Burg Rothenfels gegeben hatte und diese größtenteils während der Auslagerung im Würzburger Werkbundverlag bei der Bombardierung Würzburgs verbrannt ist, ist nicht mehr genau festzustellen, was von Thomas Mann zu seinen frühen Lektüren gehörte oder in seiner Bibliothek stand.
Aus einer Erinnerung Rudolf Franks über die gemeinsame freistudentische Zeit wissen wir, dass in jedem Falle sein "Tristan" dazugehörte: "Wir haben uns in jenem Wintersemester über alles mögliche ausgesprochen: über freie Liebe und Ehe, über die `ethischen Grundfragen´... über die eben ausgebrochene russische Revolution 1905, über die neuen Tristan-Novellen von Thomas Mann ..., über `Das Jahr der Seele´ von Stefan George wie über Arthur Schnitzlers erotischen `Reigen´ ... und auch die Pubertätsphilosophie von Otto Weiningers `Geschlecht und Charakter´ nahmen wir wichtig. In der Schack-Galerie sättigten wir uns an den Farben Böcklins und in der Alten Pinakothek an Niederländern und Italienern. Wir lebten mit Hofmannsthals ersten traumhaften kleinen Dramen und seinen frühen Gedichten." (Rudolf Frank: Meine Münchner Jahre, in: Von Juden in München. Ein Gedenkbuch, hrsg. von Hans Lamm, 1958, S. 180)
Aus eigenen späteren Erinnerungen (1953) gehörten wohl auch die "Buddenbrooks" dazu.
1916/17
Im Sommer 1916 reagiert Guardini auf eine Erwähnung von Thomas Mann im vorausgegangenen Brief Weigers, der aber nicht erhalten ist. Aber auch hier spricht Guardini davon, Thomas Mann sei ein "wirklich raffiniert", aber "sehr feiner" "Psychologe":
- 64. Brief an Josef Weiger vom 22.07.1916, Mainz (auch 24.07.1916): "Daß Th. Mann Dir imponiert hat, glaub ich. Es ist ein wirklich raffinierter Psychologe, gewiß von begrenztem Problemkreis und nicht ohne Manier, aber sehr fein."
Ende 1917 empfiehlt er seinem Freund Weiger die Lektüre Thomas Manns und reiht ihn unter "moderne, bedeutende Schriftsteller" ein:
- 74. Brief an Josef Weiger vom 30.11.1917, Mainz: "Auch rate ich Dir, einmal moderne, bedeutende Schriftsteller zu lesen: Thomas Mann; Kellermann; Stefan Zweig; Keyserling u.a."
1920 Briefwechsel Weiger-Mann
Aus Thomas Manns "Tagebücher: 1918-1921" (hrsg. von Peter De Mendelssohn, 1977, 1979, S. 368) geht für den „Januar 1920“ hervor: „… antwortete dem katholischen Pfarrer Weiger, der mir klug über K. H. geschrieben.“ Die Anmerkung (S. 725) führt dazu aus, dass mit "K. H." das Buch „Königliche Hoheit“ gemeint sei. Dieser Antwortbrief dürfte wohl auch Guardini nicht unbekannt geblieben sein.
Beide Briefe sind bislang allerdings in Mooshausen nicht aufgefunden worden.
1921 bis 1950
Für den Zeitraum von 1920 bis 1950 findet sich bei Guardini keine unmittelbare Bezugnahme auf Thomas Mann. Diese beginnt erst wieder Anfang der 1950er Jahre und hier insbesondere in den Ethik-Vorlesungen.
Dies ist weiter nicht verwunderlich, da Guardini im Rahmen seiner Werk-Interpretationen ausdrücklich nur Dichter behandelte, deren Werk aufgrund ihres Todes und der Edition als weitgehend abgeschlossen gelten konnte. Zeitgenössische, noch lebende Autoren und ihre Werke hat er nur im Rahmen von autobiographischen Berichten oder Tagebuchnotizen oder in Briefen kommentiert. Zu den Berichten und Tagebuchnotizen liegt hier nunmehr alles vor, auch die Bezüge in den Briefen an Josef Weiger. Höchstens in anderen erhaltenen Briefen könnten sich noch weitere Bezüge ergeben.
1951
Mögliche, wohl einzige Begegnung in 1951
Robert Prantner (Zwischen Ballhausplatz und Vatikan: hinter den Kulissen des Geschehens, 2006, S. 257) erinnert sich - nach 55 Jahren - an eine Salzburger Begebenheit: „Kaum einmal, daß ich Menschen begegnete, die zu knipsen meine geheime Sehnsucht gewesen wäre. Aber einmal, ein einziges Mal in meinem nunmehr schon abgelaufenen Leben, da geriet ich knapp an den klassischen Sehnsuchtsruf „Ein Pferd“ (eine Photokamera), ein Königreich für eine solche“. Und das an einem glühend heiße Julimittag in Salzburg, in einem der schönen Biergärten der Festspielstadt an der Salzach, nachdem eben der feierliche Eröffnungsakt der „Salzburger Katholischen Hochschulwochen" über die Bühne gegangen war. Dortselbst wurde von deren Präsidium zu einer Stärkung gebeten. Knapp vor meinem ersten „Doktor" war es gewesen, 1954 oder 1955. Meinen Augen traute ich nicht, als ich um einen Holztisch mit zwei langen Bänken mehr oder minder prominente Adabeis herumtanzen sah, um eine „Таfel", wie sie in meiner Heimatstadt Wien in sogenannten Heurigengärten herumstehen. Wer an diesem Tische placiert war? Ich traute meinen literaturbeflissenen Augen nicht: saß da vor einem Krügerl Bier doch Thomas Mann, daneben Reinhold Schneider und Werner Bergengruen, gegenüber Romano Guardini, sorgsam bemüht um die alte Dame Gertrud von Le Fort. Ein einziger echter Sitz an deren Seite war unbesetzt geblieben, offenkundig wagte niemand, sich in diesen Olymp der Literatur und des Geistes aufzuschwingen.“
Nun kann diese Erinnerung, die noch nicht unabhängig bestätigbar ist und zu der sich bislang keine Erwähnung bei den Teilnehmern findet, aufgrund der Zusammensetzung sich nicht auf 1954 oder 1955, sondern nur auf 1951 beziehen. Wenn es tatsächlich im Juli war, dann war der Anlass war wohl die am 27. Juli vollzogene Eröffnung der "Salzburger Festspiele".
Die Salzburger Katholischen Hochschulwochen wurden wohl am 4. August eröffnet und dauerten vom 5. bis zum 18. August, wobei die "literarische" bzw. "literarwissenschaftliche Woche" (mit den Vorträgen Guardinis und den Lesungen von Bergengruen und Le Fort) die zweite Woche war. Wenn Prantners Erinnerung des "Olymps der Literatur und des Geistes" grundsätzlich stimmt, wäre diese Begegnung wohl das einzige nachweisliche Zusammentreffen.
Ob Thomas Mann an der Eröffnung der Salzburger Festspiele teilnahm oder gar tatsächlich auch Gast und Teilnehmer der Hochschulwochen war, und nicht nur auf Urlaub im Salzburger Umland, den er am 13. August für eine Lesung in Salzburg unterbrach, ist aufgrund Thomas Manns über das Tagebuch und andere Berichte rekonstruierten "Terminkalender" (https://kulturlexikon.info/index.php?title=Thomas_Mann) zu beantworten: "Im August 1951 verbrachte er einen Erholungsurlaub in Strobl am Wolfgangsee, am 13. August las er in der Großen Aula in Salzburg aus Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Aufnahme durch den Rundfunk). Ab 25. August 1951 folgte eine dreiwöchige Kur in Bad Gastein." Zwischen dem 11. und 15. August wohnte Thomas Mann im "Haus Waldburg" in Aigen. Thomas Mann notierte in sein Tagebuch: "Hübsche private Wohnung. Im Hause sonst nur Furtwängler und Frau." Furtwängler hatte am 11. August Verdis Otello dirigiert und reiste am 15. August wieder nach Luzern. Aufgrund von Furtwänglers Rehabilitierung, die Thomas Mann strikt ablehnte, begegnete man sich im Haus wohl nicht.
Thomas Mann las am 13. August die neuen Kapitel, „Reise und Ankunft“ und „Cirkus", während seines Besuchs der Salzburger Festspiele am 13.8. im Hauptsaal des „Mozarteums“. Tatsächlich hatten auch Bergengruen und Le Fort solche Leseabende (Salzburger Nachrichten, 16.8.1951), aber nicht wie Mann im Rahmen der Festspiele, sondern klar im Rahmen der Katholischen Hochschulwochen.
Programm der Hochschulwochen und die zwei Vorlesungen Guardinis
Laut "Die Furche" vom 19. April 1951 sollte es folgende Hauptvorlesungen geben:
- Die Verantwortung des dichterischen Wortes (Prof. Dr. Alois Winklhofer, Passau).
- Mensch und Gott in der modernen Dichtung (Prof. Dr. Wilhelm Grenzmann, Bonn).
- Der Auftrag christlicher Dichtung (Prof. Dr. Hermann Kunisch, Berlin).
Dazu die Nachmittagsvorträge:
- Schuld und Gnade in der neueren Dichtung (Univ.-Dozent Dr. Karl Josef Hahn, Nimwegen).
- Existentialistische Dichtung (Dr. Curt Hohoff, München).
- Christus und Hölderlin (Univ.-Dozent DDr. Eduard Lachmann, Innsbruck).
- Das Übernationale im Nationalepos (Prof. Dr. Josef Nadler, Wien).
- Literatur als Erziehungskraft (Dr. Franz Kapfhammer, Graz).
- Der Kampf um das Buch als sinkende Kulturmacht (Ministerialrat Prof. Dr. Josef Lehrl, Wien).
Dazu war eine öffentliche Diskussion zum Thema "Weltanschauliche Dichtung der Zeit" mit Prof. Otto Mauer, Wien, Dr. Curt Hohoff, München, und Dr. Ignaz Zangerle, Innsbruck, geplant. Und als Dichterlesungen waren angekündigt: Werner Bergengruen und Gertrud von Le Fort. Interessanterweise fehlt hier noch der Name Guardinis. Dies kann aber daran liegen, dass die Zusage Guardinis für Vorlesungen oder deren Themen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorlagen.
Laut Gerners Bibliographie folgte ebenfalls in der österreichischen "Furche" vom 14. Juli 1951 eine weitere Ankündigung: Die Salzburger Hochschulwochen vom 5. bis 18. August 1951 (Gesamtprogramm): Ankündigung „Hauptvorlesungen“ u.a. von Romano Guardini (12. bis 18. August 1951): Thema: „Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung“ (in: Die Österreichische Furche, Wien, 7, 1951, 29 (14. Juli 1951), S. 7 [Gerner 267]).
Im Nachbericht der Zeitschrift "Universitas" heißt es dann: "Die Hauptvorlesungen in der literarischen Woche, die noch stärker besucht waren, hielten Prof. Dr. Hermann Kunisch, Berlin, Prof. Dr. Alois Winklhofer, Passau, Prof. Dr. Josef Nadler, Wien, und Prof. Romano Guardini, München. Dichterlesungen hielten Werner Bergengruen und Gertrud von Le Fort." (Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur, 1951, S. 1156) Und in der Zeitschrift "Neues Abendland" (1951, S. 504) wird das Programm wiefolgt wiedergegeben: "Die literarwissenschaftliche Woche vom 12. bis 18. August, die unter dem Thema "Die Dichtung in gläubiger Sicht" stand, wäre in anderem Zusammenhang einer Betrachtung wert. Lesungen von Werner Bergengruen, Gertrud von Le Fort, Romano Guardini und Referate von Prof. Alois Winklhofer - Passau, Prof. Wilhelm Grenzmann - Bonn, Prof. Hermann Kunisch - Berlin, Dr. K. J. Hahn - Nimwegen, Dr. Curt Hohoff - München und Prof. Josef Nadler - Wien u.a. bemühten sich um eine Klärung dieses wesentlichen Fragenkomplexes im Sinne des Ultimatums unserer Zeit, die sich selbstherrlich emanzipierten Wissenszweige wieder in eine allumfassende Ordnung einzugliedern." Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese Wiedereingliederung tatsächlich das Ziel der Veranstaltung beschreibt oder eher den Wunsch der Zeitschrift gemäß ihrer integralistischen Programmatik.
Die Lesung von Thomas Mann dagegen fand im Rahmen der "Salzburger Festspiele" statt.
"Mythos und Offenbarung. Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung"
Guardinis Vortrag "Mythos und Offenbarung" bzw. "Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung" wurde zuerst in Paris gehalten und ist auch zuerst in französisch erschienen. Guardini hat den Vortrag noch 1950 in München und Ulm wiederholt und auch im Deutschen in den "Frankfurter Heften" veröffentlichen lassen.
- 7. Mai 1950, Paris: Mythe et révélation (M 788) [Gerner, S. 576]; gedruckt: "Mythe et Révélation" in: Centre catholique des intellectuels francais (Hrsg.): L´Humanisme et la Grâce. Semaine des intellectuels catholiques, Paris 1950 [Mercker 0788] sowie Le mythe et la verité de la révélation, in: Recherches de science religieuse, Paris, 37, 1950, S. 161-175 [Mercker 0811], deutsch unter dem Titel: Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung, in: Frankfurter Hefte, 5, 1950, S. 712-723 (Vortrag auf der 3 "Semaine des intellectuels catholiques" in Paris 1950) [Mercker 0777]; englisch unter dem Titel: Myth, and the truth of Revelation, in: Cross Currents. A new quarterly Review to explore the implications of Christianity for Our times, 1, 1951, 2, S. 3-12, 1951 ins Englische übersetzt von Marie Christine Hellin und Sally S. Cunneen [Mercker 0833];
- 12. Juni 1950, München: Mythos und christliche Wahrheit (M 777) [Gerner, S. 576]
- 17. Juli 1950, Ulm: Mythos und Offenbarung (M 777) [Gerner, S. 576]
- 15. Juni 1951, Freiburg im Breisgau: Mythos und Offenbarung (M 777) [Gerner, S. 576]
- August 1951, Salzburg, Salzburger Hochschulwochen: Mythos und Offenbarung (M 777) [Gerner, S. 576]
Im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern findet diese Vortragsgeschichte folgenden Niederschlag:
- GAKAB 1889/3. Mythos und christliche Wahrheit vom 12.06.1950, 11 Seiten [Münchener Vortrag 1950]
- GAKAB 1573. BM24a Mythos und Offenbarung. Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung, R7 vom Aug 51, 35 Seiten [Salzburger Vortrag 1951]
- GAKAB 1576. BM24b Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung, ohne Angaben, 35 Seiten: Italienische Übersetzung; 37 Seiten: Abschrift, zusammen 72 Seiten
Dann gibt es im Archiv aber auch noch eine Redaktionsstufe 8 vom Februar/März 1952, die um ganze 14 Seiten umfangreicher zu sein scheint (kann gegebenenfalls auch am Druckbild liegen und muss noch überprüft werden):
- GAKAB 0216. Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung, R8 vom Februar-März 1952, 49 Seiten
- GAKAB 1574. BM24a Mythos und Offenbarung. Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung, R8 vom Febr-März 1952, 49 Seiten
- GAKAB 1575. BM24a Mythos und Offenbarung. Die Erlösung des Mythos, ohne Angaben, S. 32-34, 3 Seiten
Heute ist die veröffentlichte Fassung von 1950 - also ohne Bezug auf Thomas Mann - wieder enthalten in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 4, 2003, S. 7-24.
"Über die religiöse Dichtung der Neuzeit"
Den zweiten Salzburger Vortrag "Über die religiöse Dichtung der Neuzeit" hat er nur dort gehalten. Der Text war ursprünglich gedacht als Geleitwort für Robert Rocheforts Buch "Kafka oder die unzerstörbare Hoffnung", das anders als geplant erst 1955 erschienen ist. Er ist erstmals auszugsweise unter dem Titel "Glaube und Dasein. Zur Verkehrung religiöser Gehalte im Denken der Neuzeit" in der Zeitschrift "Wissenschaft und Weltbild" 1952 gedruckt worden und dann vollständig 1953 unter dem Salzburger Titel in der Reihe "Christliche Besinnung"
- Über religiöse Dichtung der Neuzeit, in: Christliche Besinnung, Band 7, 1953, S. 26-38 (Originalbeitrag) (Vortrag auf den Salzburger Hochschulwochen 1951) [Mercker 0930];
- Auszug unter dem Titel Glaube und Dasein. Zur Verkehrung religiöser Gehalte im Denken der Neuzeit, in: Wissenschaft und Weltbild, Wien, 5, 1952, 7, S. 225-231 [Mercker 0877];
- dann auszugsweise (wie ursprünglich vorgesehen) als Geleitwort, in: Robert Rochefort: Kafka oder die unzerstörbare Hoffnung, Wien/München 1955, S. 9-20 [Mercker 1038];
Heute ist der Text von 1952 bzw. 1953 - ebenfalls ohne einen Bezug auf Thomas Mann - veröffentlicht in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 4, 2003, S. 114-124.
Rezeption der Vorträge
Ilse Leitenberger in "Salzburger Nachrichten"
Der erwähnte Bericht Ilse Leitenbergers konnte von mir noch nicht vollständig eingesehen werden.
Friedrich Abendroth in "Die Furche"
Am 30. August 1951 schrieb Friedrich Abendroth unter dem Titel "Romano Guardini: "Mythos und Offenbarung": "Der Höhepunkt der diesjährigen Hochschulwochen überhaupt: Romano Guardini. Es ist unmöglich, auf beschränktem Raum den lückenlos gefügten Quaderbau seiner Gedanken auch nur im Grundriß aufzuführen. Und dennoch war sein Vortrag "Mythos und Offenbarung" von jener Luzidität, daß jeder das Eigentliche erfassen konnte: Jeder von uns, mag er sich noch so gläubig dünken, war bis ins Innerste getroffen, als er, beginnend mit der ruhigen eintönigen Beweisführung des Psychologen und endend mit der klassischen Homiletik der biblischen Erschließung des Sündenfalls, enthüllte, was in unser aller Glauben verborgen dem Mythos zugehört.. Jenem Mythos, dessen Allgläubigkeit, innerweltliche Erlösung und magische Identifikationssehnsucht des Menschen mit Gott wie ein dunkler, geheimnisvoll anziehender Unterstrom unser Denken durchflutet. Nur wenn dieses Menschenbild, wenn diese zur Trostlosigkeit führende heidnische Verfallenheit wie ein alter Sauerteig herausgeschafft ist, kann das neue, das biblische Menschenbild erstrahlen. Der zur unendlichen Freiheit geschaffene, in seiner heilen Natur gottebenbildliche Mensch, der nur "ein weniges unter den Engeln steht" in einer Welt, die keinem mythischen Urgrund von Werden und Vergehen entstammt, sondern von einem unendlich liebenden persönlichen Gott frei geschaffen wurde. Guardini schuf hier eine letzte Wegscheide der Geister. Daß es ihn selbst manchen wehen Abschied am unvermeidlichen Kreuzweg kostet, bewies das atemanhaltende Schweigen, als er für einen Augenblick mit dem Schöpfer der Josefsromane — der alte ungläubige Thomas hatte in anderem Rahmen einen Abend zuvor sein funkelnd kaltes Feuerwerk brillieren lassen — die geistige Klinge kreuzte."
Clemens Heselhaus in "Universitas"
Ein weiterer Nachbericht von Clemens Heselhaus findet sich in "Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur" (1951, S. 1269 f.) unter dem Titel: Christliche Dichtung? Zur Salzburger Hochschulwoche über Dichtung: "Wir sind erlöst worden von der Religion, von ihrer Zweideutigkeit", sagte Romano Guardini in einem Vortrag auf den diesjährigen Salzburger Hochschulwochen. Es war zweifellos der bedeutsamste Vortrag innerhalb der zweiten Woche, die die „Dichtung in religiöser Sicht" behandelte. Guardini trennte damit scharf eine sogenannte "natürliche" Religiosität - er nannte sie mythisch - von der Offenbarungsreligion. Die Offenbarungsreligion hatte schon im Alten Testament die Überwindung des Mythos bedeutet, damit aber auch die "Entzauberung des Daseins". Für den Christen werde die Zweideutigkeit des Religiösen nur in Jesus Christus aufgehoben. Im Mythos - und Guardini rechnet dahin alles, was das Chaos der Welt bewohnbar macht - sieht er darum keine natürliche Religion, sondern die Sprache des gefallenen Menschen. Guardini hat in diesem Salzburger Vortrag die Gegenüberstellung von Mythos und Offenbarung nicht zu einer grundsätzlichen Stellungnahme zur Dichtung ausgedehnt. Er nannte zwar als mythenbewußten Menschen Hölderlin, dessen Dichten ein Singen des Mythos gewesen sei, worin der Gott gegenwärtig ist. Er nannte weiterhin Rilke und seinen Kulturmythos von der Erneuerung der Erde . Er polemisierte auch gegen Thomas Mann, der am Abend vorher in der gleichen Aula academica (zugunsten der Stipendiaten des Mozarteums) aus unveröffentlichten Fortsetzungen zum Felix Krull gelesen hatte. Aber Guardini nannte keinen Dichter, der in seinem Sinne die mythische Religion überwunden habe und bis zur Offenbarungsreligion vorgedrungen sei. Die Tatsache, daß Guardini sich mehr auf die mythischen Dichter als auf die Offenbarungsdichter bezog, deutet an, wo das eigentliche Problem der Fragestellung „Dichtung in religiöser Sicht" liegt. Die Fragestellung enthält nämlich in sich eine echte Paradoxie: Der radikal religiöse Mensch bedarf der Dichtung nicht."
Heselhaus setzt sich daher auch von jeder außerordentlich scharfen, Pauschalverurteilung durch selbsternannte "Rechtgläubige" sowie von einer asketischen und kunstfremden Richtung" im christlichen Publikum ab, von der er aber Guardinis Darlegung selbst auszunehmen scheint, weil er letztlich nur die Problematik der mythischen Dichtung beschrieb und auch Kritik an beispielhaften Vertretern übte, aber sie aber in keiner Weise "rechtgläubigen Offenbarungsdichtern" gegenüberstellte. Der Artikel warnt daher auch abschließend mit den Sätzen: "Die Verwandtschaft mit jeder Beurteilungsweise der Kunst, wie sie vor kurzem offiziell in Deutschland verlangt wurde, die Beurteilung der Kunst nach Gesichtspunkten des Nutzens, ist zu offensichtlich, als daß man daran vorbeigehen könnte. Nicht dadurch, daß man den Satz "Schön ist, was dem deutschen Menschen gemäß und nützlich ist", dahin abwandelt, "Schön ist, was dem Christen gemäß und nützlich ist", gewinnt man ein Kriterium für christliche Kunst und Dichtung."
Antonia Carl in "Die christliche Frau"
Laut Mercker-Bibliographie [Mercker 2312] existiert auch ein Bericht von Antonia Carl unter dem Titel "Gastmähler des Geistes" in der Zeitschrift "Die christliche Frau" (Köln, 40, 1951, 2, S. 54-56, hier S. 55) über den Vortrag Guardinis auf den Salzburger Hochschulwochen 1951: Über religiöse Dichtung der Neuzeit. Auch darin wird die Auseinandersetzung mit „Josef und seine Brüder“ von Thomas Mann erwähnt. Der Artikel liegt mir aber nicht vor.
Thomas Manns Reaktion auf Guardinis Kritik
Unabhängig von einer persönlichen Begegnung hat Guardini aber offensichtlich in einem seiner beiden Vorträge bei den Hochschulwochen tatsächlich einen Exkurs zu Thomas Mann gemacht, der sowohl in der Presse Erwähnung fand als auch eine Reaktion von Thomas Mann auslöste. Guardini kritisierte dabei wohl Thomas Manns Mythisierung der Josephsgeschichte als „Verfall des Wahrheitsgefühls“ (TS 17.8.1951). Der gesamte Vorgang ist aber noch näher zu betrachten und erforschen.
In seinem Tagebuch (Tagebücher. 1951-1952, 1993, S. 94) notiert er: "17. VIII ... "Salzburger Nachrichten" mit freundlichem Bericht über die Vorlesung. Bericht über den Vortrag eines frommen Gelehrten über "Offenbarung und Mythos", worin der Mythos verurteilt wird, unterm Beifall des Publikums, die Mythisierung der Josephsgeschichte verworfen wird. Ähnlich wie im Falle Muschg, hat der Professor viel von mir profitiert." Dazu gehört die Kommentierung auf S. 487 f.: "3] Bericht über den Vortrag eines frommen Gelehrten: I. Leitenberger, Dichtung aus gläubiger Sicht<, ein Bericht über Vorträge während der Salzburger Hochschulwochen, insbesondere über Romano Guardinis Ausführungen zu >Mythos und Offenbarung<: "Dem Mythos in seiner Zwielichtigkeit, seiner endgültigen Bannung des Menschen in die Welt seiner religiös gewordenen Hoffnungslosigkeit und seiner ausweglosen Schwermut in dem Abfall von Gott die Offenbarung gegenüberzustellen als Entzauberung der Welt und Gottes für den freien und in der Freiheit des Glaubens und der Liebe antwortenden Menschen galt Guardinis eigentliches Anliegen." Was Thomas Mann, dessen Mythosbegriff hier grundsätzlich in Frage gestellt wurde, besonders traf, war der Schluss des Textes: "Der weniger spontan als demonstrativ wirkende Beifall des Publikums auf Guardinis Bemerkung, dass Thomas Manns Versuch, aus der Joseph-Tetralogie einen Mythos zu machen, einen Verfall des Wahrheitsgefühls darstelle, wirkte erst recht makaber - gleichsam als gelte die Ovation dem eigenen Begräbnis – durch den folgenden Satz des großen Gelehrten, dass Thomas Mann einst das Ideal einer ganzen Jugend gewesen sei.""
Ilse Leitenbergers Artikel hieß wohl nicht "Dichtung aus gläubiger Sicht", sondern "Dichtung in gläubiger Sicht" und stand in den Salzburger Nachrichten vom 16.8.1951 (Jg. 7, Nr. 188, S. 4).
Man vergleiche zu diesem Vorgang bereits Ruprecht Wimmer (Religion und Theologie in Thomas Manns Erwähltem, in: Thomas-Mann-Studien, Band 45, 1967, S. 104): "Romano Guardini hatte im Rahmen der "Salzburger Hochschulwochen" einen Vortrag gehalten, der sich mit `Mythos und Offenbarung´ beschäftigte. Thomas Mann hatte am 13. August selbst in Salzburg aus dem Felix Krull gelesen, dessen Weiterführung er schon ernsthaft ins Auge fasste, und nahm am 17. des Monats in den Salzburger Nachrichten einen begeisterten Bericht über seine Vorlesung zur Kenntnis. Er musste aber im gleichen Blatt einen Bericht über die Hochschulwochen und vor allem über die Ausführungen Guardinis lesen, der ihn verärgerte. Der Berichterstatter paraphrasierte Guardinis Vortrag folgendermaßen: `Dem Mythos in seiner Zwielichtigkeit, seiner endgültigen Bannung des Menschen in die Welt seiner religiös gewordenen Hoffnungslosigkeit und seiner ausweglosen Schwermut in dem Abfall von Gott die Offenbarung gegenüberzustellen als Entzauberung der Welt und Gottes für den freien und in der Freiheit des Glaubens und der Liebe antwortenden Menschen galt Guardinis eigentliches Anliegen.´ Was Thomas Mann, dessen Mythosbegriff hier grundsätzlich in Frage gestellt wurde, besonders traf, war der Schluss des Textes: `Der weniger spontan als demonstrativ wirkende Beifall des Publikums auf Guardinis Bemerkung, dass Thomas Manns Versuch, aus der Joseph-Tetralogie einen Mythos zu machen, einen Verfall des Wahrheitsgefühls darstelle, wirkte erst recht makaber - gleichsam als gelte die Ovation dem eigenen Begräbnis – durch den folgenden Satz des großen Gelehrten, dass Thomas Mann einst das Ideal einer ganzen Jugend gewesen sei.´ Thomas Mann kommentiert im Tagebuch seine Zeitungslektüre eher beiläufig-gereizt: `Bericht über den Vortrag eines frommen Gelehrten über "Offenbarung und Mythos", worin der Mythos verurteilt wird, unterm Beifall des Publikums, die Mythisierung der Josephsgeschichte verworfen wird. Ähnlich wie im Falle Muschg, hat der Professor viel von mir profitiert.1 Obwohl der Autor sich nicht weiter verteidigt – das Tagebuch wäre ja auch kaum der richtige Ort dafür gewesen -, sehen wir uns hier einer grundsätzlichen, für Thomas Manns religiöse Einstellung entscheidenden Frage gegenüber."
In einer ersten Bewertung schreibt nun Ruprecht Wimmer: "Bei allem Respekt vor Guardinis Theologie und Lebenswerk: sollte sein Vortrag - dessen Text ich bislang nicht eruieren konnte – wirklich in die vom Berichterstatter referierte Richtung gegangen sein, dann kannte er den Joseph bestenfalls von einer Diagonallektüre her. Dass das Wiedererzählen einer Geschichte, in welcher Wiedererzählungsvariante auch immer, auf der Ehrfurcht vor dieser Geschichte beruht, dass gerade sie, der Wiedererzählung und Wiederholung würdig, als zeitlos menschheitsprägend erkannt wird - das hat nichts mit der Säkularisierung göttlicher Offenbarung zu tun, es öffnet vielmehr das betreffende Geschehen der metaphysischen Dimension, oder hält sie dafür offen." (vgl. zu Guardini auch noch S. 109 und 113).
Dieser ersten Einschätzung liegt aber selbst ein Irrtum zugrunde: Denn bei Guardini geht es weder um eine theologische noch um eine literaturwissenschaftliche Beurteilung, sondern um eine katholisch-weltanschauliche Interpretation, die an der Offenbarung, also der Heiligen Schrift als Wort Gottes Maß nimmt. Ähnlich finden wir dies in den anderen Werk-Deutungen Guardinis bezügliche Dostojewskij, Hölderlin und Rilke. Und aus der Sicht der Offenbarung stellt Manns Umgang mit den im Alten Testament als Wort Gottes überlieferten Josephsgeschichten eindeutig sowohl eine "Säkularisierung der göttlichen Offenbarung" als auch eine Re-Mythisierung dieser Geschichten dar. Es handelt sich ja gerade nicht nur um eine bloße "Wiedererzählung und Wiederholung". Und weder die Heilige Schrift noch das in ihr erzählte Geschehen selbst hat erst eine Wiedererzählung nötig, um sich der metaphysischen Dimension zu öffnen oder dafür offen gehalten zu bleiben, schon gar nicht wenn in der Wiederzählung das Wesen, der Sinn und der Geist der Ursprungserzählung faktisch in Richtung Mythos verschoben wird.
Leider hat Ruprecht Wimmer nach der Veröffentlichung der Ethik-Vorlesungen sich nicht noch einmal zu Guardinis Haltung zu Manns Josephsromanen geäußert.
Die Ethik-Vorlesungen der 1950er Jahre
In Guardinis Ethik-Vorlesungen - er beginnt diese im Wintersemester 1950/1951 - finden sich alle Bemerkungen zu Thomas Mann im erster Teil "Natürliche Sittlichkeit".
Thomas Manns Theorie des Satanischen
Bereits im Abschnitt "Das Grundphänomen" schreibt er im Zweiten Kapitel zum "Bösen" und zwar im Abschnitt "2. Das "Wesen" des Bösen: Verfehlte Bestimmungen" Thomas Mann eine "Theorie des Satanischen" zu:
- S. 77: "Auf der Reinlichkeit der Unterscheidung zwischen Polarität und Widerspruch - bzw. Polarität und Existenzschichtung - ruht zum guten Teil das, was Charakter des Geistes und Würde der Person heißt. Den Widerspruch zur Polarität zu machen, zerstört den personalen Ernst. Wenn das Böse konstruktiver Gegenpol des Guten ist und zum Wesen der Welt gehört, dann wird es zu etwas Funktionellem, von dem nicht eingesehen werden kann, warum es nicht getan werden dürfe. Man braucht sich bloß auf diese Seite der Weltkonstruktion zu stellen, dann ist man im "schöpferischen Bösen" (Thomas Manns Theorie des Satanischen). Das alles sind aber pompöse Worte, die die Sinnzerstörung verdecken."
Diesen Vorwurf der fehlenden Unterscheidung von Widerspruch und Gegensatz und das mythische Hineinverlagern des Widerspruchs von Gut und Böse in das Göttliche trifft keineswegs nur Thomas Mann, sondern beginnt bei Guardini gegenüber Goethe und stellt Mann noch 1964 (siehe unten) in eine Reihe mit diesem sowie Gide, C.G. Jung und H. Hesse.
Thomas Mann und der moderne Neo-Mythos mit Verweis zu den Josephsromanen
Im zweiten Kapitel "Der Ort in der Zeit" im Abschnitt "3. Die Natur" kritisiert er ihn dann ein erstes Mal für die auch in seinen Josephsromanen zu findende Re-Mythisierungstendenz:
- S. 580 f.: "Und noch etwas anderes wird deutlich: eine seltsame Tendenz, in der Welt, in ihren verschiedenen Bereichen wieder die alten mythischen Kräfte, die Numina zu entdecken. Sie findet sich in der Dichtung (Hölderlin, Weinheber, Th Mann, Fr Jünger, Hemingway) ... in der abstrakten Kunst ... im politischen (Gefühl für die Inappellabilität des Staates) im Verhältnis zur Technik (Motor, Traktor, Geschwindigkeit) ... in der Kapitulation vor dem Tod und dem Töten - nicht zu vergessen die Vorstellung des Menschengottes, die im Zusammenhang mit dem alten Herosbegriff die christliche Vorstellung des Gottmenschen ins Mythische zieht. (Hölderlin, Nietzsche, Nationalsozialismus) Dieser Mythos ist aber durch und durch fragwürdig. Wir sehen dabei ganz von der fundamentalen Fragwürdigkeit ab, die jedem Mythos als solchem anhaftet und über die wir hier nicht sprechen können. Wir sehen auch davon ab, daß die seelischen Voraussetzungen für eine echte Mythik im modernen rationalisierten Menschen nicht mehr gegeben sind. Was wir meinen, ist etwas anderes. Der alte Mythos stand vor dem alle Geschichte scheidenden Ereignis der Offenbarung. Er war ihr gegenüber grundsätzlich offen. Der heutige ist es nicht mehr. Er steht in der Revolte gegen sie. Er sucht die geschehene Offenbarung, den personalen Eintritt Gottes in die Geschichte auszulöschen. (Thomas Mann: Josephsromane) Er tut, als ob das nicht wäre, was in Wahrheit das Ereignis einfachhin gewesen ist. So kommt in den ganzen modernen Neo-Mythos etwas Gewolltes, Verkrampftes, Unwahres und Ohnmächtiges, das den Menschen für die Gewalt griffbereit macht. Ja er hat etwas Verzerrtes; er ist Grimasse. Wir sehen das in der abstrakten Kunst. Sagen wir genauer: nicht in der rein abstrakten Kunst, sondern in jener, welche die Urgestalten unseres Daseins, vor allem die Gestalt des Menschen zerstört. Daraus spricht eine Angst, eine Verzweiflung, die in den vielfältigen Darstellungen von Un-Wesen, von lemurischen und dämonischen Wesen zum offenen Ausbruch kommt ... Und ebenso in ihrer tief verräterischen Verwandtschaft mit der Kunst der Irren, über welche sie eigentlich bis in den Grund erschrecken müßte. Daß sie dazu nicht fähig ist, vielmehr einer merkwürdigen Philosophie, im Verein mit einem höchst zielbewußten Kommerz, erlaubt, das Heraufdrängende zu tarnen, ist wie eine Versiegelung."
Thomas Mann und das ethische Problem der Kunst
Später widmet Guardini unter den "Wertfiguren des Werklebens", im vierten Kapitel "Die Kunst" (S. 793 ff.), Thomas Mann eine ganze Passage unter dem Punkt "3. Das ethische Problem der Kunst" (S. 802 ff.) zur Frage nach der sittlichen Aufgabe des Künstlers:
- S. 808 f.: "Die Frage ist schwer, und ich gestehe Ihnen, daß ich keine Formel weiß. Vielleicht gibt es keine. Das Problem aber gibt es, und es kann sehr bedrängen. Nehmen wir ein Beispiel. Thomas Mann war ein großer Künstler. Als ich studierte, war es für uns immer ein Ereignis, wenn etwas Neues von ihm erschien. Er hat auch die Josephsromane geschrieben, drei umfangreiche Bände. Darin behandelt er, was die Genesis über die Patriarchen erzählt. Sprachlich eine große Leistung, obwohl sich überall die Manier ankündigt; psychologisch sehr interessant. Im übrigen eine einzige Zerstörung der Offenbarung. Die Weise, wie da von Gott und seinem Verhältnis zu den Menschen gesprochen wird, verkehrt die Kern-Tat der Offenbarung, nämlich die Durchbrechung des Mythos, in ihr Gegenteil; ja sie kann, wenn man weiß, worum es geht, nur blasphemisch genannt werden. Durfte der Künstler das tun? Man erwidert, hier komme es nicht auf religiöse Wahrheit an, sondern der Künstler habe sich ein Thema gestellt, das ihn berührte, und es künstlerisch richtig behandelt. Durfte er das aber, wenn es sich um etwas handelte, das Unzähligen heilig ist?"
- S. 810 f.: "Der Künstler kann zu einem Menschen werden, der das Sittliche nur noch an der Stelle der Werk-Echtheit empfindet, im übrigen aber gegen Menschen und Dinge gewissenlos wird und nichts mehr von Treue und Verantwortung weiß. Das sind sehr schwierige Fragen, und Künstler wie Ästhet neigen nur allzu sehr dazu, das, was in Wahrheit Schwäche, Lässigkeit, Zuchtlosigkeit ist, der künstlerischen Aufgabe zu gute zu schreiben. Die Frage führt aber tiefer. Das wird besonders aus den Anschauungen von Thomas Mann deutlich, den sie durch sein ganzes Werk hin begleitet hat. In den frühen Novellen "Tonio Kröger" und "Tristan" entwickelt er den Gedanken, der Künstler sei vor die Entscheidung gestellt, ob er die Kunst oder das Leben wolle. Genauer gesagt, sei diese Entscheidung durch seine seelische Struktur selbst gefallen. Bei jenem Zustand der Offenheit für die künstlerische Inspiration; bei jener Verfügbarkeit für das Werden des Kunstwerkes könne er nicht zugleich ein wirkliches eigenes Leben führen, Begegnung mit den anderen Menschen vollziehen, Gemeinschaft der Liebe und der Freundschaft haben, bürgerliche Existenz aufbauen, wirkliches Glück und Leid, echtes Schicksal erfahren. Geschehe das Letztere, dann bedeute das, daß er ein uneigentlicher Künstler sei, dessen Werk in Wahrheit durch pädagogische, oder politische, oder kommerzielle Zwecke bestimmt werde."
- S. 812-815: "So ist es denn nicht zufällig, daß Thomas Manns letztes, unvollendetes Werk, nämlich die "Memoiren des Hochstaplers Felix Krull", den Gedanken der Parodie zum Äußersten treibt. Ein Mensch, von Wesen "Hochstapler", das heißt Schwindler, der zu keinem Lebensinhalt ein ethisches Verhältnis hat; nichts ernst nimmt als nur die Perfektion, mit welcher er den sein ganzes Leben erfüllenden Betrug ausführt, erzählt dieses Leben. Der Hochstapler wird dabei zur Parodie des Künstlers; ebendamit aber zu dessen letzter Perfektion; vollkommen befreit von jedem bourgeoisen Ernstnehmen des Lebens. Er ist das Gleiche, was in der vierten Elegie der Engel ist ... Doch geschieht dabei eine tiefe Enthüllung. Das ganze Leben wird in die Form des Hohns transportiert, und es wird offenbar, daß sich hier eine Rache vollzieht. Der Künstler, der sein Künstlertum damit bezahlen mußte, daß er des Erlebens personaler Verbundenheit, wirklicher Schicksalsgemeinschaft verlustig geht, macht den, der zu erleben vermag, nicht nur zum dumpfen Bourgeois, sondern zum Gegenpart des Hochstaplers, nämlich zum Verhöhnten und mit Eleganz Betrogenen. Damit ist aber noch nicht die letzte Verschärfung des Problems erreicht. Das geschieht schon im "Zauberberg" vor allem aber im "Doktor Faustus". (Die Krankheit, das Satanische und die Kunst schießen hier zu einer Einheit zusammen, was bedeutet, daß auf der anderen Seite das gesunde Leben, die banausische Existenz, die Gewissenhaftigkeit und Güte des Herzens zusammenstehen.) Diesen Roman ("Doktor Faustus") hat Thomas Mann selbst offenbar als sein wichtigstes Werk angesehen; hat er doch ein Buch über dessen Entstehung, den, wie er selbst es nennt "Roman eines Romans", geschrieben. Darin nimmt er das alte Faustmotiv auf: nämlich den Schritt eines Menschen, der über das Menschliche hinaussteigen will und, um es zu können, sich dem Bösen, Satan, verpflichtet. Im Bild dieses Paktes erscheint das Schicksal Nietzsches, der ja in seiner Jugend in Leipzig in ein Bordell geraten ist und sich dort syphilitisch infiziert hat. Die Infektion hat dann eine sehr lange Inkubationszeit durchgemacht, und ist erst spät, in Turin, in Form eines paralytischen Irreseins ausgebrochen. Dazwischen liegt das Werk Nietzsches, das für Thomas Mann nicht nur tiefste Lebensdurchschauung, sondern auch den Entwurf einer absoluten Lebensüberschreitung des Menschen zum Übermenschen bedeutet hat. (Er hat die große Nietzsche-Ausgabe, die bei Beck in München erscheinen sollte, aber dann stecken blieb, mit herausgegeben.) Der Held des Romans ist Adrian Leverkühn, "deutscher Tonsetzer", also Künstler. Ihm stößt das gleiche zu wie dem Philosophen. Auch bei ihm bleibt die Infektion zunächst latent und wächst gewissermaßen mit seinem Wesen, seiner bis zum Äußersten betonten Künstlerschaft zusammen. Auf dem Gipfel seiner Produktivität hat er ein bereits pathologisches Erlebnis. Eine Halluzination zeigt ihm Satan, und im Gespräch mit ihm kommt seine innerste seelisch-künstlerische Situation zum Ausdruck. (Natürlich spielt jenes andere große Gespräch des Menschen, der ein Übermensch sein will, mit Satan, nämlich das des Iwan Karamasoff, aus dem Roman gleichen Namens hinein. Wobei die Bemerkung erlaubt sein mag, daß der Vorgang bei Dostojewski eine ganz andere Klarheit der Motivation und des Aufbaus hat. Denn Dostojewski war gläubig und hat gewußt, was Religion ist, was bei Th Mann nicht mehr der Fall war. In diesem Gespräch geht jenes Einswerden, von welchem die Rede war, in unheimlicher Weise vor sich. Die Syphilisbazillen im Gehirn des Mannes erscheinen als besonders geschätzte Gehilfen und Wirkungsträger Satans; ihrerseits unlöslich verbunden mit der künstlerisch-musikalischen Inspiration des Menschen Leverkühn. Die Gleichung: Kunst = Krankheit = das Böse tritt hervor. Im Zusammenhang von Thomas Manns Anschauung wird man das Verhältnis zwischen Kunst und Leben im Letzten wohl nicht anders verstehen können, als so, daß der Künstler, dem die Kunst verliehen, dafür aber das Leben versagt - man kann also auch sagen, der zur Kunst verurteilt und, trotz aller "kalten Ekstasen" der künstlerischen Inspiration und alles Übermenschentums zutiefst verzweifelt ist - sich dafür am Leben rächt, indem er das Böse als Prinzip bejaht."
- S. 816: "Im Voraufgehenden ist das ethische Problem der Kunst bzw. des Künstlers sehr scharf herausgetrieben worden, damit es deutlich zu Gesicht komme. Überblickt man nun die Welt der Kunstwerke genauer, so sieht man natürlich, daß im Einzelnen die wirkenden Motive sehr verschieden sind, und daher auch das ethische Problem selbst eine verschiedene Farbe und Schärfe annimmt. So haben etwa die Werke eines Schiller oder Grillparzer oder Stifter einen viel harmonischeren und konstruktiveren Charakter als der "Doktor Faustus" oder "Der Zauberberg". Dieser Charakter wird noch sicherer in der Kunst etwa der französischen Klassik, oder gar in den gewaltigen Werken, welche die Namen Dante, Aischylos, Sophokles, Homer tragen. Was hier Künstler und Werk bestimmt, ist der Wunsch, positive Weltgestalt aufzubauen, wertgesättigtes Leben erstehen zu lassen."
Guardinis Studienbibliothek I
Zu den Erwähnungen in den Ethik-Vorlesungen und den nachfolgenden Tagebuchnotizen stehen in Guardini Studienbibliothek folgende Werke von Mann bzw. über Mann:
- gb 1313 Lotte in Weimar, Stockholm 1946
- gb 1320 Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Stockholm 1947
- gb 1310-1312 Joseph und seine Brüder: 3 Bde., Stockholm 1948
- gb 1316 Ausgewählte Erzählungen, Stockholm 1948
- gb 1321 Neue Studien, Stockholm 1948
- gb 1304 Die Entstehung des Doktor Faustus, Frankfurt 1949
- gb 1309 Buddenbrooks: Verfall einer Familie, Frankfurt 1951
- gb 1314 Der Erwählte, Frankfurt 1951
- gb 1317 Altes und Neues: Kleine Prosa aus 5 Jahrzehnten, Frankfurt 1953
- gb 1308 Der Zauberberg, Frankfurt 1954
- gb 1315 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: Der Memoiren erster Teil, Frankfurt 1954
- gb 1322 Die Betrogene: Erzählung, Frankfurt 1954
- gb 1318 Adel des Geistes: 16 Versuche zum Problem der Humanität, Frankfurt 1955
- gb 1319 Königliche Hoheit, Frankfurt 1955
Außerdem:
- gb 4309/10 Hans Egon Holthusen: Die Welt ohne Transzendenz: Eine Studie zu Thomas Manns "Dr. Faustus" und seinen Nebenschriften, Hamburg 1954 (mit kleineren handschriftlichen Eintragungen)
- gb 2612 Erich Heller: Thomas Mann: Der ironische Deutsche, Frankfurt 1959
Tagebuchnotizen 1953: Über Mann-Lektüre im Zusammenhang
Diese Äußerungen in den posthum veröffentlichten Ethik-Vorlesungen werden ergänzt durch die ebenfalls erst 1980 erschienen Tagebuchnotizen, in denen er sich in den Jahren 1953/54, 1959 und 1964 auch Notizen zu Thomas Mann macht, insbesondere als Anmerkung zu seinen Lektüren.
Der Band kleinerer Erzählungen und "Der Tod in Venedig"
27.5.53
"... Lese im Zusammenhang Th. Mann. Jetzt gerade den Band kleinerer Erzählungen."
Sonntag, 7.6.53
"»Der Tod in Venedig« – der ganze Band »Erzählungen« von Thomas Mann – immer die gleiche, trostlose, zerstörte Welt. Aber ich verstehe darin jeden Satz."
Dienstag, 23.6.53
"Immer wieder muß ich – widerwillig und gegen meine Abneigung – das Können von Th. Mann bewundern. Fülle des Stoffes und Genauigkeit der Einzelheiten, eine Sprache, die immer Neues hergibt und ihrer selbst ganz sicher ist ... Aber eine zerstörte Welt ..."
Wiederlesen der "Lotte in Weimar"
Isola, Mittwoch 14.10.53
"Ich lese wieder Thomas Manns »Lotte in Weimar«. Das Buch ist unglaublich gekonnt – obwohl das Kapitel mit der Erzählung der Adele Schopenhauer unverhältnismäßig lang, auch in der Darstellungsart monoton ist. Die Psychologie ist subtil und scharf; und die Entschiedenheit, mit welcher die unerfreulichen oder doch kümmerlichen Seiten Goethes genannt werden, hat etwas sehr Erfrischendes. Durch das Ganze zieht sich aber eine schlimme Gnosis; d.h. eine Technik, das wesenhaft Verschiedene durch die Analogien und Parallelen so in eins zu schieben, daß keine Unterscheidung und damit kein Charakter mehr bleibt. [...] Ich lese weiter in »Lotte in Weimar«. Voll geistreicher Gedanken, aber eigentümlich monoton. Alles ist zu lang.
Isola, Sonntag 18.10.53
"... Als ich heute ein Stück in den Selbstgesprächen Goethes bei Thomas Mann las, habe ich vielleicht verstanden, was für ihn »Natur« war und daß man, bis zu einem gewissen Grad, mit ihr allein auskommen könnte: das Unbekannte, in allem sich Offenbarende; in jeder Einzelheit Arbeitende, und doch Eine ... Aber in Wahrheit ist es doch ein Zweites, Empörtes, Dämonisiertes."
Isola, Donnerstag 22.10.53 (I)
"Ich bin mit Thomas Manns »Lotte in Weimar« fertig geworden. Ein unglaublich gekonntes Buch – mir scheint, ich habe das schon einmal geschrieben. Was aber das Gesagte selbst angeht – jeder Satz ist richtig und falsch zugleich. Und auf eine böse, giftige Art falsch, nämlich gnostisch. Ich weiß nicht, ob der wirkliche Goethe so denkt; der des Thomas Mann schafft jede Entscheidung hinaus. Alles steht im Sowohl-als-auch. Wenn man nur hoch genug hinaufgeht, lösen sich alle Widersprüche, ja sie werden notwendige Elemente im Ganzen. Der höchste Wert ist die Ironie, dichterisch gesehen die Parodie, das souveräne Spiel dessen, der im Ganzen steht und daher, innerhalb dessen, nichts ernst nimmt – die Haltung des Rilke’schen Engels, für den alle Wesen Puppen im Marionettenspiel des Daseins sind.
Wiederlesen der "Buddenbrooks"
Isola, Donnerstag 22.10.53 (II)
Ich habe mir aus Ginos nachgelassener Bibliothek jetzt die »Buddenbrooks« geholt. Zwischen den beiden Büchern liegt eine lange Zeit. Will sehen, ob dazwischen etwas passiert ist. Nach den Novellen, etwa dem Tonio Kröger zu urteilen, wahrscheinlich nicht viel."
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (1953)
1953 erwähnt er in seiner Rilke-Studie zwei Mal auch Thomas, einmal in Bezug auf seine "Lehre vom Kunstwerk", einmal im Blick auf die "Philosophie" seiner Spätwerke:
- S. 39: "Zunächst könnte es scheinen, als sei gesagt, der nach der Erfüllung sich Sehnende solle verzichten und ein Lied auf die Liebe daraus entstehen lassen – ein Gedanke, der ja auch sonst wiederkehrt, zum Beispiel eines der Grundmotive der Thomas Mannschen Lehre vom Kunstwerk bildet: wer schaffen will, muß darauf verzichten, zu leben. Rilke meint aber nicht nur, daß eine Kraft, die sich im Leben nicht erfüllen darf, das Kunstwerk hervorbringt. Er spricht vielmehr von einer besonderen Art der Liebe, die besungen werden soll, nämlich jener der „Verlassenen, die du so viel liebender fandst als die Gestillten“."
- S. 144: "Wer aber da anschaut, sind wiederum wir selbst, sofern wir nur anschauend sind, nur Auge, ohne ein Leben-wollen, ohne ein Sein-wollen, vollkommen zufrieden damit, daß Spiel geschehe und geschaut werde. [*8 Haben wir aber die in der Struktur des Verhältnisses angelegte Konsequenz auf die objektive Ironie des Daseins gezogen, dann müssen wir fortfahren: Unser Leben findet seinen letzten Sinn, wenn der Mensch mit dieser Ironie einverstanden ist. Darin besteht seine Überlegenheit und sein entsagender Anteil am sonst unzugänglichen olympischen Sein des Engels. Hier laufen Verbindungslinien zur Philosophie von Thomas Manns „Zauberberg“, „Doktor Faustus“ und den Selbstgesprächen Goethes im Roman „Lotte in Weimar“.]"
1954
München, 20.1.54
"Solche Erkrankungen nehmen mir immer viel Zeit. Ich richte mich leicht in ihnen ein, und die Tage vergehen. Alles Passive in meinem Wesen, die schlimmen Seiten der Absichtslosigkeit kommen dann heraus und schaffen eine Art Zauberbergzustand."
Frühjahr und November 1954: Festschrift Preetorius
Causa "Festschrift Preetorius". Der Briefbeitrag von Thomas Mann enthält einen umstrittenen Passus über die Papstaudienz Thomas Manns bei Papst Pius XII. Guardini machte daraufhin im Frühjahr 1954 seinen Beitrag davon abhängig, ob zumindest dieser Passus eliminiert würde. Emil Preetorius und Thomas Mann stimmten dem Weglassen des Passus in der Druckform zu. Angeblich aufgrund eines Verlagsfehlers wurde der Passus aber dann doch gedruckt und zog im November 1954 weitere Auseinandersetzungen nach sich. Es kam dabei aber wohl zu keiner direkten brieflichen Auseinandersetzung zwischen Thomas Mann und Guardini. Näheres wird später im Artikel Emil Preetorius ausgeführt.
12. August 1955: Tod von Thomas Mann
Es gibt bislang keinerlei Hinweis, dass Guardini den Tod von Thomas Mann in irgendeiner Weise kommentiert.
1959: Tagebucheinträge über die erneute Mann-Lektüre
Zauberberg
München, So., 30.8.59
"Bei der Lektüre von Th. Manns »Zauberberg«: In seiner Rede vor den Studenten in Princeton sagt er, daß Buch sei ihm erst zum Kunstwerk gediehen, als er sein eigenes Erlebnis in Davos überwunden hatte und fähig geworden war, es in das souveräne »Spiel« der reinen Gestaltung überzuführen. Er dürfte sich getäuscht haben. In Wahrheit ist er wohl existentiell nie aus dem Zauberberg der Krankheit wirklich hinausgekommen. Und nie aus dem eines Pseudo-Mythos, sonst hätte er nicht in den Josefsromanen versucht, das Alte Testament, dessen Wesen mit in der Überwindung des Mythos besteht, zu mythisieren."
Isola, 12.9.59
"Th. Mann nimmt im Zauberberg alles, auch die entscheidendsten Dinge als Material für jenes Spiel, das er »Kunstwerk« nennt. Kann man das aber, ohne daß, existentiell, alles unernst wird? Kann der Tenor des Werkes durchgehend ironisch sein, ohne daß alles zum Verrat wird? Die Weise vollends, wie er die Gestalt und Haltung des Holländers zu Gethsemane in Beziehung setzt, ist einfach Schmutzerei im Geist; nicht dargestellt, sondern reale, in dem, der darstellt. Man muß bis in den Kern hinein ungläubig sein, kalten Unglaubens, um das zu können."
Vollendung der Kunst in der Ironie und Parodie
Isola, 15.9.59
"Die Bedeutung, die dem Ästhetischen für die Existenz zugemessen wird, steht im umgekehrten Verhältnis von jener, die man der Wahrheit gibt. Je zweifelhafter das »Was« des Daseins, desto wichtiger wird das »Wie«. Von einem gewissen Punkt ab drängt sich das dem existentiell ernstwilligen Geist so stark auf, daß die Ästheterei nicht nur grotesk, sondern widerlich wird. Für Th. Mann vollendet sich die Kunst in der Ironie und Parodie (G. Benn)."
Frühe Novellen
Isola, 20.9.59
"Die frühen Novellen von Th. Mann: Man sieht, wie die Mittel sich entwickeln, die später meisterhaft gehandhabt werden sollen, sieht auch das jugendlich Übersteigerte. Und die Grausamkeit, mit welcher menschliche Not aufgespürt und bloßgestellt wird ... Aber ist nicht alle Kunst in der Wurzel grausam? Ob es dann noch ausdrücklich dazu kommt, ist eine Frage des Temperaments und des Zufalls. Aber von vornherein und entscheidenderweise ist es die Wesenshaltung des Künstlers, der aus dem Lebensbezug heraustritt und den Gegenstand überhaupt erst zum Objekt der Gestaltung macht. Hier liegt der Grund zu einer tiefen Unsittlichkeit des Kunstwerks, abgesehen von allem Inhalt: in der Kälte des sachlichen Blicks."
Guardinis Studienbibliothek II
In Guardini Studienbibliothek stehen im Blick auf die nächsten Erwähnungen folgende Werke von Mann bzw. über Mann:
- gb 1323 Anna Hellersberg-Wendriner: Mystik der Gottesferne: Eine Interpretation Thomas Manns, Bern, München 1960 (mit Widmung der Autorin und handschriftlichen Eintragungen Guardinis)
- gb 1305 Briefe 1889-1936, hrsg. Erika Mann, Frankfurt 1961 (mit handschriftlichen Eintragungen)
- gb 1306 Briefe 1937-1947, hrsg. Erika Mann, Frankfurt 1963
- gb 1307 Briefe 1948-1955 und Nachlese, hrsg. Erika Mann, Frankfurt 1965
1964: Letzte Tagebucheinträge zu Mann-Lektüre
12.1.64
"Zum Unbegreiflichsten, das es gibt, gehört die Blindheit des Liberalismus für die historischen Konsequenzen seiner Haltungen und Anschauungen. Tritt mir immer wieder aus der Korrespondenz von Th. Mann entgegen, von der ich Bd.II lese. Die Zerstörung aller absoluten Maße, der Möglichkeit echter Entscheidung, auch gerade dessen, von dem er sich nennt, der Freiheit. Der deutsche Liberalismus war – und wird in irgendeiner Form immer wieder sein – der Vater des Nazismus."
20.1.64
"Die Gegensatzlehre wird noch Zukunft haben. Überall die gnostische Grundidee wirksam, daß die Widersprüche Polaritäten sind: Goethe, Gide, C.G. Jung, Th. Mann, H. Hesse ... Alle sehen das Böse, das Negative ... als dialektische Elemente im Ganzen des Lebens, der Natur."
Kalendernotiz 28.1.64
- "Di 28.1. [Notizen:] Th. Mann: Lotte in Weimar"
Ein werdendes Idol (1965)
Einen letzten begrifflichen Bezug (»kalte Ekstase«) zu Thomas Mann wird Guardini 1965 herstellen, nämlich in: Ein werdendes Idol. Unsystematische Reflexionen (in: Clemens Bauer/Laetitia Böhm/Max Müller (Hrsg.): Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung. Johannes Spörl aus Anlaß seines 60. Geburtstages, Freiburg/München 1965, dann in: Sorge um den Menschen, Band 2, S. 108): "Der genau empfindende und urteilende Beobachter entdeckt in dem Phänomen ein sehr gefährliches Element. Vieles trägt zu dieser Gefahr bei: die in Bewegung kommenden Energien sind ungeheuer groß, und ihr Wirkfeld gibt weder Reserven noch Zufluchten frei. Die Energien ergreifen den Menschen selbst und ändern ihn. Sie verbinden sich mit dem Autonomiewillen des modernen Menschen und bringen, um ein Wort von Thomas Mann zu brauchen, eine »kalte Ekstase« hervor, in welcher er sich selbst an diese Mächte preisgibt. Der Situation eignet scheinbar höchste Rationalität; ihn Wahrheit treibt sie in die Selbstzerstörung, wie sich das heute in der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik so seltsam durch Gefühle der Angst, des Ekels, der Absurdität, des Wahnsinns ausdrückt. Der Begriff des Fortschritts bekommt den Charakter eines unausweichlichen Getriebenseins und beherrscht nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch das individuelle Urteil."
Dieser Begriff stammt aus "Tonio Kröger" (1903) und steht im Kontext des Satzes: „Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems.“