Guardinis „Michelangelo“. Spurensuche zu einer Werkhistorie: Unterschied zwischen den Versionen
(Die Seite wurde neu angelegt: „<big><center>'''Guardinis „Michelangelo“. Spurensuche zu einer Werkhistorie.'''</center></big> <center>'''Von Helmut Zenz'''</center> == Der eigentliche "Erstling" == Oft wird auch heute noch das Büchlein „Vom Geist der Liturgie“ als Guardinis „Erstlingsschrift“ bezeichnet. Schon im Sinne der reinen Autorenschaft stimmt dies so nicht ganz, weil die Vorform seiner Gegensatzschrift unter dem Titel „Gegensatz und Gegensätze“ bereits 1914 v…“) |
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So gibt es in der Münchner „Guardini-Bibliothek“ nur drei Bücher mit unmittelbarem Bezug zu Michelangelo. Zum einen als Geschenk von Hans Sedlmayr mit Widmung dessen Buch: „Michelangelo: Versuch über die Ursprünge seiner Kunst“ (GB 2517), dann die Ausgabe von „Michelangelos Weltgericht: Mit einer Lebensbeschreibung von Asconio Condivi“ (Wien 1942, GB 4915) und schließlich die französische Ausgabe „Michel-Ange“ von Romain Rolland (GB 2181). Ob letzteres von der mit Guardini befreundeten Marie Romain Rolland geschenkt wurde, oder ob das Buch noch aus dem Altbestand der Bibliothek stammt, kann nicht mehr geklärt werden. Immerhin ist die „Michelangelo“-Biografie Rollands im gleichen Jahr in Frankreich erschienen wie Guardinis Sammlung der Gedichte und Briefe. Rollands Buch wurde dann allerdings erst 1919 ins Deutsche übersetzt. | So gibt es in der Münchner „Guardini-Bibliothek“ nur drei Bücher mit unmittelbarem Bezug zu Michelangelo. Zum einen als Geschenk von Hans Sedlmayr mit Widmung dessen Buch: „Michelangelo: Versuch über die Ursprünge seiner Kunst“ (GB 2517), dann die Ausgabe von „Michelangelos Weltgericht: Mit einer Lebensbeschreibung von Asconio Condivi“ (Wien 1942, GB 4915) und schließlich die französische Ausgabe „Michel-Ange“ von Romain Rolland (GB 2181). Ob letzteres von der mit Guardini befreundeten Marie Romain Rolland geschenkt wurde, oder ob das Buch noch aus dem Altbestand der Bibliothek stammt, kann nicht mehr geklärt werden. Immerhin ist die „Michelangelo“-Biografie Rollands im gleichen Jahr in Frankreich erschienen wie Guardinis Sammlung der Gedichte und Briefe. Rollands Buch wurde dann allerdings erst 1919 ins Deutsche übersetzt. | ||
Alles in allem zeigt auch dieser Befund, dass Guardini selbst seinem Erstling im Blick auf seine bzw. im Vergleich zu seinen späteren Gestalt-Phänomenologien von Schriftstellern (vor allem Dostojewskij, Rilke, Hölderlin) keinen großen Wert mehr beigemessen hat. Als Beitrag aber zu seiner Gegensatzmethode, seiner Philosophie des Lebendig-Konkreten und seiner katholischen Welt- und in ihr seiner Kunst-Anschauung kann man die Bedeutung dieser kleinen von Guardini herausgegebenen, in Teilen übersetzten und kommentierten Sammlung gar nicht hoch genug ansetzen. | == Zusammenfassung == | ||
Alles in allem zeigt auch dieser biographische und historische Befund, dass Guardini selbst seinem Erstling im Blick auf seine bzw. im Vergleich zu seinen späteren Gestalt-Phänomenologien von Schriftstellern (vor allem Dostojewskij, Rilke, Hölderlin) keinen großen Wert mehr beigemessen hat. Als Beitrag aber zu seiner Gegensatzmethode, seiner Philosophie des Lebendig-Konkreten und seiner katholischen Welt- und in ihr seiner Kunst-Anschauung kann man die Bedeutung dieser kleinen von Guardini herausgegebenen, in Teilen übersetzten und kommentierten Sammlung gar nicht hoch genug ansetzen. | |||
Version vom 5. Dezember 2025, 02:42 Uhr
Der eigentliche "Erstling"
Oft wird auch heute noch das Büchlein „Vom Geist der Liturgie“ als Guardinis „Erstlingsschrift“ bezeichnet. Schon im Sinne der reinen Autorenschaft stimmt dies so nicht ganz, weil die Vorform seiner Gegensatzschrift unter dem Titel „Gegensatz und Gegensätze“ bereits 1914 von der Freiburger Caritas-Druckerei in gebundener Form herausgebracht wurde. Im Sinne einer Herausgeberschaft und der Kommentierungs- und Übersetzungstätigkeit ist es aber definitiv falsch, denn in dieser Hinsicht ist eindeutig sein Michelangelo-Buch aus dem Jahr 1907 dieser „Erstling“.
Dieses Buch ist aber bislang auch in der Guardini-Forschung nur selten als eigenständige Schrift wahrgenommen worden. Im Grunde geschieht in der hier vorgelegten, historisch-kritischen Ausgabe und einordnenden Interpretation durch Yvonne Dohna Schlobitten dies zum ersten Mal.
Vor allem wurden die originären Anteile Guardinis, die über die Sammlung und Übersetzung der Briefe und der historischen Einleitung aus Condivis „Leben Michelangelos“ hinausgehen, kaum beachtet. Dies liegt daran, dass Guardini als Herausgeber, Übersetzer und Kommentator ganz hinter Michelangelos Texten zurücktreten wollte. Es ging ihm darum, Michelangelo durch die bewusst ausgewählten und angeordneten Gedichte und Briefe selbst sprechen zu lassen, mehr noch: ihn dadurch als Dichter-Gestalt „anschaulich“ zu machen. Dabei fanden in der Guardini-Forschung bislang eben weder die Auswahlprinzipien noch Guardinis kommentierende Begleittexte und Fußnoten ausreichende Berücksichtigung.
Guardini als Übersetzer aus dem Italienischen
Aber auch insgesamt wird Guardinis frühe Tätigkeit als Übersetzer aus dem Italienischen vernachlässigt [Philipp Harth erwähnte in seinen Erinnerungen „Mainzer Viertelbuben. Jugenderinnerungen“ (Mainz 1962) schon Guardinis Lust am Übersetzen während seiner Schulzeit: „Für die Schule übersetzte er Oliver Twist aus dem Englischen. In sein Heft zeichnete ich dazu Illustrationen, was dem Lehrer und seinen Mitschülern Freude machte.“].
Viele Biografien erwähnen erst seine Übersetzungen aus dem Französischen (Lucie Christine; 1921 Madeleine Sémer, 1929). Mittlerweile sind aber über die Michelangelo-Übersetzungen hinaus weitere frühe Übersetzungen aus dem Italienischen bekannt geworden.
Zum einen handelt es sich um zwei Fogazzaro-Gedichte (1906) im Rahmen eines von Wilhelm Schleußner gezeichneten Aufsatzes über den italienischen Schriftsteller in den „Historisch-politischen Blättern“.
[Wilhelm Schleußner/Romano Guardini u.a. (Mitarbeiter): Antonio Fogazzaro, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Bd. 138, 1906, S. 506-542, S. 573-590 und S. 653-675), S. 510 und S. 514. In den Fußnoten wird Guardini als Übersetzer für zwei Texte angegeben. 1906 veröffentlichte Schleußner, Professor an der Oberrealschule in Mainz, diesen dreiteiligen Artikel über „Antonio Fogazzaro“. Darin wird Antonio Fogazzaro (* 1842), der dann 1911 gestorben ist und als geistiger Schüler Rosminis gilt, als die „bedeutendste Persönlichkeit der gegenwärtigen italienischen Literatur“ gekennzeichnet. In einem von Gerner noch nicht in seinem Nachtrag zur Mercker-Bibliographie verzeichneten, aber gefundenen anonymen Nachruf für Wilhelm Schleußner im „Mainzer Journal“ (1927) heißt es dazu: „Zwei Namen charakterisieren diese Tafelrunde und Schleußners Einsatz dabei wohl ganz gut: Dr. K. Neundörfer und Dr. Guardini. Wer z.B. weiß, daß in diesen Stunden Schleußners Artikel in den Historisch-politischen Blättern über bezw. gegen Fogazzaro ihre ersten Keime fanden, weiß, wie fruchtbar diese kleine „Akademie“ war.“ Das Prekäre nun an dieser Mitwirkung am Artikel Schleußners: 1905 hatte die katholische Kirche Fogazzaros Werk „Il santo“ auf den „Index Librorum Prohibitorum“ gesetzt, 1911 – seinem Todesjahr - dann auch noch sein Werk „Leila“. Aufgrund seiner eigenen Schwierigkeiten bei der Zulassung zur Priesterweihe, aber auch der Kritik an seinem Lehrer und Beichtvater, dem Tübinger Dogmatikprofessor Wilhelm Koch hat Guardini diese Mitwirkung wohl in seiner zukünftigen Bibliographie weggelassen.]
Zum anderen übersetzte Guardini in diesen Jahren (1906/08) auch noch drei italienische nationalökonomische Texte ins Deutsche.
[Guardini übersetzt aus dem Italienischen: Vincenzo Caracciolo di Sarno: Literaturbericht für „Italien. A. Gesetzgebung. 1902-1905“, in: Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft, Bd. 8, 2. Abteilung, 1. Teil, 1907, S. 1868-1898 (angegeben mit stud. d. Staatswissensch., Mainz); sowie: Giuseppe Mazzarella: Über die Sammlung orientalischer Rechtsquellen, in: Blätter für Vergleichende Rechtswissenschaft, 4, 1908, S. 197-202 und S. 257-267 (angegeben mit stud. phil., Mainz). Ebenfalls in diesen Blättern hat Guardini die Verlags-Selbstanzeige des Werks „Die ökonomische Grundlage des Imperialismus. Aktuelle Tatsachen und Tendenzen“ des Venediger Professors Giacomo Luzzatti übersetzt (Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre, Berlin, 2, 1907, Sp. 255f.). Die Internationale Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft zu Berlin wurde am 21. Februar 1894 in Berlin gegründet. Als Gründer und langjähriger Vorsitzender firmiert Geh. Justizrat Felix Meyer (1851-1925), Kammergerichtsrat in Berlin.]
Verortung in der zeitgenössischen „Renaissance-Renaissance“
Während letztere Übersetzungen wohl aus „Gefälligkeit mit finanziellem Hintergrund“ angefertigt wurden, da Guardini sein wechselhaftes Studium nicht allein aus der väterlichen Unterstützung finanzieren wollte, partizipierte er mit den Fogazzaro- und Michelangelo-Texten an der um die Jahrhundertwende einsetzenden „Renaissance“ der italienischen Renaissance sowie an einer neuen Wertschätzung für italienische, insbesondere auch für italienisch-reformkatholische Literatur spiritueller und poetischer Art des 19. und 20. Jahrhunderts (Rosmini, Leopardi, Fogazzaro). Namentlich fand diese neue Wertschätzung ihre größte Wirksamkeit in den zum Teil konkurrierenden, zum Teil kooperierenden, einerseits freigeistigen, andererseits jüdisch und christlich geprägten Kreisen um Stefan George, Georg Simmel, Rainer Maria Rilke, Ludwig Jacobowski oder Eugen Diederichs; dann aber auch im wesentlich von Kardinal Newman geprägten deutschen Reformkatholizismus um Friedrich von Hügel, Herman Schell, Sebastian Merkle, Franz Xaver Kraus, Joseph Sauer, Georg von Hertling und Carl Muth.
Für Guardini lassen sich beide Wurzeln konkretisieren in seinen damaligen Zugehörigkeiten: Zum einen gehörte er zur Münchner und Berliner Freistudentenschaft [Hans Ulrich Wipf: Studentische Politik und Kulturreform. Geschichte der Freistudenten-Bewegung 1896-1918, 2004, vor allem S. 89 und die zugehörigen Fußnoten S. 114.], zum anderen eben zum Mainzer Kreis um das im Reformkatholizismus gut vernetzte Ehepaar Wilhelm und Josephine Schleußner [Hinzu kommt noch die Schwester Wilhelm Schleußners, Emilie Schleußner, die Newmans „Traum des Gerontius“ übersetzte (Mainz 1925). Irrtümlich wird mitunter seine Frau als Übersetzerin angegeben.].
Beide Wurzeln lassen sich auch nachspüren in Guardinis 1911 anonym erschienener Rezension „Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance“ zu zwei im Diederichs-Verlag erschienenen Renaissance-Bänden, nämlich zu Francesco Matarazzos „Chronik von Perugia“ und zu einer Sammlung von Texten Francesco Petrarcas.
[(Anonym): Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, München, 148, 1911, S. 881-891 [Mercker 2]; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. I, 2000, S. 9-19.]
[Francesco Matarazzo, Chronik von Perugia, Jena 1910, übersetzt und eingeleitet von Marie Herzfeld (LVI und 258 S.). Über eine persönliche Bekanntschaft mit Marie Herzfeld (1855-1940) und Guardini ist bislang nichts bekannt. Allerdings war die in Ungarn geborene österreichische Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Übersetzerin an der Wende des 20. Jahrhunderts eine aktive Gestalt mit regem Austausch zu Kollegen wie Marie von Ebner-Eschenbach, Karl Emil Franzos, Rainer Maria Rilke, Gustav Klimt oder Hugo von Hofmannsthal. Als Tochter eines jüdischen, 1886 katholisch getauften Arztes war sie gerade auch im Reformkatholizismus als Übersetzerin von Björnstjerne Björnson, Jonas Lie, Arne Garborg, Knut Hamsun und vor allem Jens Peter Jacobsen bekannt, den wiederum Romano Guardini in seinem dritten, unveröffentlichten Durchlauf „Berichte aus meinem Leben“ unter seinen damals wichtigsten Autoren nennt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts stand dann die italienische Renaissance und besonders Leonardo da Vinci auf ihrer Agenda.]
[Francesco Petrarca, Brief an die Nachwelt; Gespräche über die Weltverachtung; Von seiner und anderer Leute Unwissenheit, Jena 1910, übersetzt und eingeleitet von Dr. Hermann Hefele (XXXVIII und 197 S.). Hier ist zu beachten, dass Hermann Hefele zum Tübinger Freundeskreis um Philipp Funk, Romano Guardini und Josef Weiger gehörte und Guardini so sicherlich aus erster Hand von dessen Übersetzungs- und Kommentierungsarbeit erfahren hat.]
Obwohl seine Rezension anonym erschien, empfand Carl Muth den Text als so bedeutsam, dass er ihn im Hochland zustimmend rezensierte [Carl Muth (Kürzel -th): `Reaktion´ und Reaktion (Rezension zu: Guardini, Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance), in: Hochland, München, 9/II, 1912, 12 (September 1912), S. 748-751].
Während der Schleußner-Kreis in der Guardini-Forschung schon länger, wenn auch noch bei weitem nicht tiefgründig genug im Bewusstsein steht, ist der frühe Münchner und Berliner Kontext noch weitgehend unerforscht. So bleibt es werkgeschichtlich eine Geschichte mit vielen unbekannten Faktoren und offenen Fragen, wie es dazu kommen konnte, dass ein in Italien geborener und in Deutschland aufgewachsener katholischer Student nach bereits zweimaligem Wechsel des Studienfachs - von Chemie auf Nationalökonomie [In München wird er noch als Chemiestudent erfasst, belegt dann aber offiziell nahezu ausschließlich nationalökonomische Veranstaltungen, aber faktisch auch philosophische Vorlesungen (siehe Zeugnisse in BSB Ana 342).] und dann auf Philosophie/Philologie [Im Berliner Abgangszeugnis steht interessanterweise, dass er Philosophie studiert habe, die angefügten Belegungen zeigen aber ausschließlich nationalökonomische Themen. Später wird ein Zeugnis seines Berliner Semesters mit „Philologie“ angegeben (siehe Zeugnisse in BSB Ana 342).] - auf der Suche nach seiner eigenen, insbesondere religiös-theologischen Berufung mit etwas mehr als 20 Lebensjahren im Berliner Pan-Verlag des jüdischen Verlegers Hans Landsberg eine Sammlung von Michelangelo-Gedichten und Michelangelo-Briefen herausbringen konnte.
Natürlich war seine eigene biographische „Verwurzelung“ im Italienischen für seine Münchner und Berliner Umgebung „interessant“, ist aber als alleinige Erklärung für diese Publikation nicht hinreichend. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass der junge Herausgeber und Übersetzer bei den Gedichten Michelangelos – neben den schon länger publizierten Übersetzungen der bereits verstorbenen Übersetzer, des Dichterjuristen und Danteforschers Carl Witte (1800-1883), des Schriftstellers und Theaterintendanten Friedrich Bodenstedt (1819-1892), der Dichterin Sophie Hasenclever (1823-1892), des Kunsthistorikers Hermann Grimm (1828-1901) und des Dichters und Kunstkritikers Hans Grasberger (1836-1898) – sogar auf bis dahin unveröffentlichte Übersetzungen der damals überaus namhaften und noch lebenden Übersetzerin Bettina Jacobson zurückgreifen durfte. Daher lohnt es sich, die Entstehungschronologie, die beteiligten Protagonisten, sein Münchner und Berliner Umfeld und die unmittelbare Resonanz des Buches genauer anzuschauen.
Bisherige zeitliche Einordnung des Michelangelo-Buches
In der bisherigen Guardini-Forschung wird die Entstehung des Buches aufgrund des Publikationsdatums im Jahr 1907 in die Freiburger oder gar erst in die Tübinger Zeit gelegt. Tatsächlich hat Guardini das Sommersemester 1906 in Freiburg mit dem Theologiestudium begonnen und es ab dem Wintersemester 1906/07 in Tübingen fortgesetzt. Gerl-Falkovitz erwähnte das Michelangelo-Buch in ihrer Guardini-Biografie von Guardini zunächst zwar ausschließlich im Kontext seiner in Berlin im Winter 1905/06 getroffenen „Entscheidung zum Priestertum“:
„Hinzu trat die gleichlautende Entscheidung Karl Neundörfers zum Priestertum. Das Wort des Freundes: `Im letzten liegt die Wahrheit da, wo die größte Möglichkeit der Liebe ist´, nennt Guardini den letzten Ausschlag in dem inneren Kampf. Er deutet ihn in seiner verhaltenen Art nur an, wenn er in seiner ersten Veröffentlichung „Michelangelos Gedichte und Briefe“ (Das Museum VIII, Berlin 1907) an den Schluß das Sonett setzt: `O Herr, befreit von schwerer Bürde wende ich mich zu dir …´ In der Einleitung steht vorsichtig, aber bezeichnend der Satz von `Michelangelos eigener ringenden Seele´, deren Ausdruck Guardini in dieser Umbruchzeit zu übersetzen gedrängt war. Und warum eigentlich Michelangelo? Ist es nicht wieder die Nähe zu Dante, die hier ins Spiel kommt?“ [Hanna-Barbara Gerl: Romano Guardini, 1885-1968. Leben und Werk, Mainz 1985, S. 47]
In ihrer Einleitung zu den von ihr herausgegebenen Briefen Romano Guardinis an seinen Freund Josef Weiger schreibt sie dann aber im Abschnitt „Frühe Reflexionen zur Kunst“: „Guardinis Schrifttum setzt ein, als nach zwei Fehlversuchen im Studium (Chemie und Nationalökonomie) 1906 die Entscheidung für das Priestertum fällt. Anstoß zum Schreiben wird der Universalkünstler Michelangelo, den der Tübinger Theologiestudent 1907 übersetzt, also nicht dessen BILDNERISCHES, sondern LITERARISCHES Werk betrachtend.“ (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Einleitung in: Briefe an Josef Weiger)
Diese Formulierung legt nahe, dass Guardini erst in Tübingen – also im Wintersemester 1906/07 begonnen hätte, Michelangelo zu übersetzen. Angesichts der Publikation im Sommer 1907 ist diese Chronologie aber ein Ding der Unmöglichkeit.
Auch Robert A. Krieg schreibt in seiner Studie “Catholic Theologians in Nazi Germany“ zu Romano Guardini sehr kursorisch und damit teils missverständlich, teils falsch: "Guardini moved to Freiburg, where he studied theology at the University of Freiburg while residing in the seminary. As a result of conversations with his classmates, he wrote his first book, Michelangelo: Gedichte und Briefe” (Robert A. Krieg: Catholic Theologians in Nazi Germany, 2004, S. 108].
Krieg nimmt also sogar an, dass Guardini in Freiburg in einem Seminar wohnte und sein erstes Buch “Michelangelo” als Ergebnis von Gesprächen mit Klassenkameraden schrieb. Er wohnte aber bei seinem ersten Aufenthalt in Freiburg privat in der „Kaiserstr. 132“ [Siehe Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Anstalten, Beamten und Studierenden der Großherzoglich Badischen Universität Freiburg, Sommersemester 1906, Freiburg im Breisgau 1906, S. 54. Aus einer Aussage in „Berichte über mein Leben“, dass er damals mit „zwei holländischen Theologen bekannt“ wurde, „die im Collegium Sapientiae wohnten“, wurde mitunter irrtümlich geschlossen, dass auch er selbst dort wohnte.] und das Buch kann daher auch nicht aus den einsemestrigen Gesprächen mit Freiburger Seminar- oder Studienkollegen entstanden sein.
Das Publikationsjahr sagt aber bekanntlich nur bedingt etwas über den Entstehungszeitraum aus, da sich sowohl der Verlag als auch die Protagonisten im Berliner Umfeld bewegen, die in Freiburg und Tübingen für Guardini keine Rolle mehr spielen. Nachweislich war das Büchlein im Sommer 1907 bereits im Druck, da am 21. Juli im „Berliner Tageblatt“ durch Felix Lorenz ein kommentierter Vorabdruck daraus erschienen ist [Vorabdruck, in: Felix Lorenz: Michelangelo als Dichter. Eine Neuausgabe der Sonette und Briefe, in: Berliner Tageblatt, 1907, Nr. 365 (21. Juli 1907), 1. Beiblatt, S. 1-3. Nach der also kurz darauf erschienenen ersten Auflage kam es noch im gleichen Jahr zu einer zweiten Auflage mit der Kennzeichnung „2. Tausend“. 1911 entschied sich Landsberg zu einer weiteren, dritten Auflage.].
Es ist also schwerlich vorstellbar, dass Guardini mitten in einen zweifachen Umzug - von Berlin nach Freiburg und von Freiburg nach Tübingen - hinein, die Zeit hatte, um das Projekt allein während der beiden ersten Theologiesemester bis zum Sommer 1907 druckreif zu machen, wenn es nicht zumindest wesentliche Vorarbeiten und Kontaktaufnahmen vor allem in seinem Berliner Semester gegeben hat.
Diese ungenauen und unwahrscheinlichen Wahrnehmungen in der Sekundärliteratur liegen aber vor allem auch daran, dass man im Blick auf seine Münchner und Berliner Studienzeit – also zwei Semester in München und ein Semester in Berlin – bisher nur seine eigenen Erinnerungen in den bereits publizierten „Berichten über mein Leben“ einbezogen hat. In diesen zwei Berichten ging es ihm selbst vor allem um die Darstellung seines Scheiterns in der Nationalökonomie und sein Berufungserlebnis zum Priestertum, woraufhin er in Freiburg und Tübingen Theologie studierte, nachdem ein ihm von Dr. Johannes Moser in Berlin empfohlenes Studium beim Reformkatholiken Herman Schell in Würzburg am Einspruch des Mainzer Priesterseminars und letztendlich am Tod Hermann Schells scheiterte.
Geistige Entwicklung und schriftstellerische Arbeit
Wenn man dagegen seinen dritten, in Mooshausen mit dem 7. März 1945 datierten, bis vor kurzem noch unveröffentlichten „Bericht aus meinem Leben“ hinzunimmt, legt sich eine andere Vermutung nahe. Darin beschreibt er nämlich auch wesentliche Öffnungen und Impulse für seine schriftstellerische und geistliche Entwicklung gerade aus dem künstlerischen und literarischen Leben. Für die Zeit in München und Berlin hielt Guardini fest:
„Kunst ist mir von da ab immer ein unentbehrlicher Bestandteil des Lebens gewesen.. In ihr habe ich zuerst ganz unmittelbar die Kostbarkeit des gestalteten Werkes empfunden. Mit dieser Köstlichkeit aber war, das darf ich wohl sagen, immer ein Ernst verbunden. Ich habe Kunst nie als Gegenstand des Genusses ansehen können. Die echte Gestaltung, Kraft des Ausdrucks und Schönheit der Form war immer etwas Anspruchsvolles, und hinter ihm stand etwas Ernstes und Tiefes. Von dort lief eine Verbindung zum Philosophischen hinüber. Sehr früh habe ich das Kunstwerk als stellvertretend für gestaltetes Dasein empfunden. In seiner Geschlossenheit und Begrenztheit war es Symbol der Welt, wie sie sein soll“ [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Typoskript, S. 19, jetzt in: Gabriel von Wendt, 2024].
Ausdrücklich dehnte er diese Überlegungen auch auf die Wahrnehmung von Literatur aus:
„Auch für das literarische Kunstwerk ist mir damals der Sinn aufgegangen, und zwar war dafür sowohl in München wie in Berlin der Freundeskreis wichtig, in welchen ich verkehrte: zum Teil selbst produktive Leute. Im Gespräch mit ihnen lernte ich die Dichtung nicht nur als fertigen Gegenstand verstehender Bemühung zu sehen, sondern ich bekam Fühlung mit dem Vorgang des Entstehens selbst“ [ebd., S. 21 f.]
Freundeskreis und „produktive Leute“ in München und Berlin
Für München sind die Literaten im Freundeskreis mittlerweile über seine Zugehörigkeit zur „Münchener Freien Studentenschaft“ (Münchner Finken) bekannt [vgl. Wipf, a.a.O., 2004]. Zu diesen befreundeten Finken gehören in jedem Fall: Rudolf Frank [Rudolf Frank: Spielzeit meines Lebens, 1960, zu Romano Guardini S. 42-44 und 56; auch in: Walter Heist (Hrsg.): Rudolf Frank. Theatermann, und vieles mehr, 1980, S. 31.], der Guardini bedeutende Abschnitte in seiner Autobiographie „Spielzeit eines Lebens“ widmete, und Franz Landsberger; Recha Rothschild, die den Münchner „Romano“ sogar in ihre posthum erschienene Autobiographie aufnimmt.
[Frankfurt am Main 1994, S. 43. Von Recha Rothschild motiviert, traten Romano Guardini und Rudolf Frank im Wintersemester 1904/05 dem Münchener „Verein für Fraueninteressen“ bei, der wiederum Mitgliedsverband des Bundes Deutscher Frauenvereine war. Vgl. Verein für Fraueninteressen, München: Elfter Jahresbericht. Bericht über die Generalversammlung vom 20. Januar 1905. Dazu schreibt Guardini selbst in seinem dritten Lebensbericht über die maßgebende Haltung in seinem „Verhältnis zur Frau“, a.a.O., S. 16-18: „Ich habe für männliche Herrschgelüste nie Verständnis gehabt. Wahrscheinlich hat [17] hier der Einfluß von Frau Josefine Schleußner, den ich schon von meinen ersten Tübinger Semestern erfahren habe, mitgewirkt. An ihr habe ich gesehen, was eine geistig bedeutende und in ihrer Bildung dem Manne vollkommen ebenbürtige weibliche Persönlichkeit ist. Doch ist dadurch nur frei geworden, was immer in mir war. Auch daß ich, was wohl nicht alltäglich genannt werden dürfte, in meiner Münchener Zeit, Mitglied des deutschen Frauenbundes wurde, war Symptom, nicht Ursache meiner Haltung. Ich habe immer die Frau als im Wesen verschieden, aber im Wert dem Manne vollkommen gleich empfunden.“]
Weiter: Ludwig Feuchtwanger, der Bruder von Lion und Martin Feuchtwanger, sowie Ernst Lissauer.
[Ludwig Feuchtwanger veröffentlichte 1933 in der von ihm geleiteten Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung unter dem Begriff „Volk“ einen Auszug aus „Der Mensch und der Glaube“ (München, 9, 1933, 9, 1. Mai, S. 129-131; hier S. 129-130). Er arbeitete als Direktor des Verlages Duncker & Humblodt mit konservativ-revolutionären und katholisch-nationalistischen Kreisen nahe war unter anderem mit Carl Schmitt und Hugo Ball befreundet.]
[Vgl. zu Lissauer: Offermanns, Arne: Ernst Lissauer. Identitätskonstruktion und Weltanschauung zwischen Deutschtum und Judentum Mit einer kommentierten Edition der Korrespondenz Lissauers mit Walter A. Berendsohn, 2018. Seine ab 1915 entstandene und 1919 erstmals gedruckte Sammlung „Die Ewigen Pfingsten. Gedichte und Gesänge“ enthält einen Text mit dem Titel „Die Uhr Michelangelos“. Am 7. August 1927 erschien in der „Kölnischen Zeitung“ sein Essay „Gedanken über Michelangelo“.]
Insbesondere Landsberger machte Guardini unter anderem mit den Werken Otto Weiningers bekannt [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Typoskript, S. 25.]; außerdem nahm er ihn zu Veranstaltungen der Theosophischen Gesellschaft mit, wo er auch Rudolf Steiners ersten Münchner Vortrag hörte. Nachweislich hatte Guardini noch 1910 Kontakt zu Landsberger [Siehe Franz Landsbergers Weihnachtsgeschenk: Heidrich, Ernst: Alt-Niederländische Malerei, Jena 1910 in der Bibliothek Mooshausen.]. Landsberger, der selbst Kunsthistoriker wurde, gehörte darüber hinaus zu jenen Zeitgenossen, die ganz phänomenologisch ausdrücklich nach dem „Wesen der Kunst“ fragten, in seinem Falle speziell nach dem „Wesen der neuen Kunst“ [Franz Landsberger: Impressionismus und Expressionismus. Eine Einführung in das Wesen der neuen Kunst, 1919 und öfters. Zur Renaissance und zu Michelangelo vgl. auch ders.: Die künstlerischen Probleme der Renaissance, 1922; ders.: Vom Wesen der Plastik. Ein kunstpädagogischer Versuch, 1924. Auch seine Schrift über Heinrich Wölfflin, 1924 sei in diesem Zusammenhang erwähnt.].
Für Berlin konnte dieser Freundeskreis noch nicht vollständig identifiziert werden, dürfte aber, wie Guardini selbst andeutet, weiterhin aus der Freistudentenschaft kommen, zumal zu diesem Wintersemester 1905/06 zusammen mit Guardini auch Heinrich Blase, Max Dreyfuss, Franz Landsberger sowie Ludwig und Lion Feuchtwanger nach Berlin wechselten [Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin WH 1905/06, Berlin 1905, zu Romano Guardini S. 117.]. Offensichtlich waren auch diese Freunde maßgeblich für seinen Wechsel nach Berlin, an den er sich in seinen bereits veröffentlichten Berichten bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich negativ erinnert hatte.
„Warum ich eigentlich von München, das ich sehr gerne hatte, nach Berlin gegangen bin, weiß ich nicht mehr recht; wahrscheinlich gehörte es zum Stil des nationalökonomischen Studiums, nach dem etwas bohèmehaften München in die strenge Arbeitsstadt Berlin zu gehen, wo auch die sozialen Probleme viel härter an einen herankamen. Ich ging also hin, und das Wintersemester, das ich dort verbrachte, ist das schlimmste meiner ganzen Studienzeit geworden. Das hing einmal mit dem Charakter des dortigen Lebens zusammen. Man kann sich in Berlin sehr wohl fühlen; muß aber eine Wohnung haben, in die man immer wieder gern zurückkehrt, und eine Arbeit, die einen interessiert und ausfüllt – falls es nicht so ist, daß man viel überschüssige Kraft hat und sich austoben will. Das alles traf bei mir nicht zu. Was die Wohnung angeht, so habe ich in den organisatorisch-praktischen – Dingen des Lebens nie viel Geschick gehabt; nachdem ich weiß nicht wie viele Zimmer angesehen hatte, blieb ich an einem hängen, das alles andere als behaglich war. Es lag in der Nähe des Bellevuebahnhofs, nach dem Hof hinaus, war dunkel und hatte fünf Ecken. Mit der Arbeit aber stand es schlecht … So habe ich von jenem Winter nur nebenher etwas gehabt. Ich hatte anregenden Verkehr, meistens noch von München her. Auch ging ich viel in Konzerte und Theater – vor allem wurde Ibsen am Lessingtheater wunderbar gespielt, und man erlebte die interessanten Experimente der Reinhardtbühnen“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz/Paderborn 1995, S. 72].
[Als Reinhardt-Bühnen wurden in Berlin jene privatwirtschaftlich geführten Theater bezeichnet, die unter direkter künstlerischer und finanzieller Leitung des Theaterleiters und Regisseurs Max Reinhardt standen. Dieser hatte die von ihm erworbenen Häuser immer aufwendig entsprechend seinen künstlerischen Vorstellungen um- oder neugebaut. Insbesondere seine Bühnen waren durch Neuerungen im Bühnenbau gekennzeichnet. Dazu gehörten unter anderem ein stetig gekrümmter Rundhorizont, besondere Lichtdekorationen oder die Arenabühne. Namentlich handelte es sich zunächst 1902 um das vormalige Berliner Kabarett Schall und Rauch, aus dem später das „Kleine Theater“ hervorging, dann 1903 das Theater am Schiffbauerdamm, das als „Neues Theater“ firmierte und schließlich 1905 das „Deutsche Theater“, in denen Reinhardt die Kammerspiele gründete.]
In seinem dritten Bericht spricht Guardini ebenfalls von seinen vielfältigen Eindrücken des Berliner Kulturbetriebs und betont abermals das Lessingtheater:
„Sehr stark war auch der Eindruck, den Ibsen auf mich machte, besonders als ich in Berlin die glänzenden Aufführungen des Lessingtheaters sehen konnte“ [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Typoskript, S. 22, jetzt: Wendt, 2024].
Das Lessingtheater stand damals immerhin unter Leitung von Otto Brahm. Dort hatte zum Beispiel am 8. November 1905 Ibsens „Die Wildente“ Premiere mit großem Erfolg [Werner Buth: Das Lessingtheater in Berlin unter der Direktion von Otto Brahm 1904-1912, 1965].
Calvinstraße 26 und „Die Kommenden“
Auch wenn sein Zimmer Guardini nicht zur abendlichen Rückkehr einlud, muss man neuerdings aber dennoch seine „Vermieter“ bzw. „Nachbarn“ näher betrachten. Aufgrund des Personalverzeichnisses der Universität wissen wir nämlich, dass Guardini damals in der Calvinstraße 26 wohnte [Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin WH 1905/06, Berlin 1905, S. 117: Eintrag „Guardini, Romano: Ostern: – Michaelis: 05; Italien; Studium: Staatsw.: Postbezirk: NW, Hausnummer: 26; Name der Straße: Calvin“].
Es lebten darin auch die Musiker-Schauspieler-Literaten-Familien Ettlinger und Moest. Ihr gehobener Stand in der Publizisten- und Theaterwelt legt nahe, dass einem der Ehepaare in dieser Epoche dieses Haus auch gehörte, oder zumindest einem ebenfalls der Szene zugeneigten Mäzen. Wie oft in diesen mehrstöckigen Häusern üblich - war die Dachwohnung im häufigen Wechsel an vorübergehend in Berlin wirkende Geschäftsleute, Schauspieler, Wissenschaftler, aber eben auch Studenten vermietet. Auch wenn Guardini nie unmittelbaren Bezug auf diese Ehepaare nimmt, wird ihm wohl kaum entgangen sein, wer und was seine Vermieter oder Nachbarn waren [siehe zu den nachfolgenden biographischen Angaben die einschlägigen Personenartikel zu Josef Ettlinger, Friedrich Moest und Emanuel Reicher in der „Neuen Deutschen Biographie“.]:
Josef Ettlinger war nämlich Leiter der Neuen Freien Volksbühne sowie Herausgeber der Zeitschrift „Das literarische Echo“. Seine Frau Thea geb. Kraus war Schriftstellerin und durchaus renommierte Whitman-Übersetzerin.
Friedrich Moest hingegen war Schauspieler und Oberregisseur am Thalia-Theater und artistischer Leiter der Neuen Freien Volksbühne. Seine Frau Else geb. Schoch war ehemalige Opernsängerin und nunmehr Gesangslehrerin. Gemeinsam waren die Moests seit 1901 Leiter und Eigentümer der Reicherschen Hochschule für dramatische Kunst, die Friedrich Moest zusammen mit Emanuel Reicher 1898 gegründet hatte.
Beide Männer, vermutlich auch ihre Frauen, waren regelmäßige Teilnehmer an einem vom Ludwig Jacobowski ins Leben gerufenen Künstlerkreis „Die Kommenden“. Jacobowski stand gegen Ende des Jahrhunderts der Theosophie nahe. Als dieser im Jahr 1900 starb, war es daher auch nicht verwunderlich, dass der damals noch als Theosoph wirkende Rudolf Steiner die Leitung dieses Kreises übernahm. Auch wenn der Kreis sich personell in der Folgezeit stark dezimierte und auch veränderte – immerhin waren noch Else Lasker-Schüler und Stefan Zweig später bekannte Mitglieder –, ist dieser Kreis auch noch 1905/06 eine mögliche Brücke von Guardini zu seinem Michelangelo-Verleger Hans Landsberg. Denn auch dieser gehörte schon lange zu dieser Künstler-Vereinigung [Vgl. dazu Fred B. Stern: Ludwig Jacobowski: Persönlichkeit und Werk eines Dichters, 1966, S. 147].
Inwieweit wiederum Guardinis Freundschaft mit dem theosophisch sehr interessierten Münchner Studienkollegen Franz Landsberger und seine durch ihn zustande gekommenen, aus Sicht der Theosophen sehr „vielversprechenden“ Kontakte zur Münchner Theosophischen Gesellschaft bei der Vermittlung der Wohnung eine Rolle gespielt haben könnte, wird leider nur schwer zu klären sein [Gerhard Wehr: Rudolf Steiner: Leben, Erkenntnis, Kulturimpuls, 1987, S. 193: Bericht von Guardinis Aufenthalten in der Theosophischen Gesellschaft und seiner Teilnahme am Vortrag Rudolf Steiner im November 1904 in München in Briefen von Sophie Stinde an Ludwig Kleeberg, unter Zitierung von Kleeberg, Sophie Stinde, in: Blätter für Anthroposophie und Mitteilungen aus der anthroposophischen Bewegung, 1955.].
Der Einfluss von Georg Simmel und Heinrich Wölfflin
In seinen posthum veröffentlichten „Berichte über mein Leben“ schreibt Guardini ausdrücklich, dass er in seinem Berliner Semester bei Georg Simmel und Heinrich Wölfflin gehört hatte [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz/Paderborn 1995, S. 72].
ab hier fehlen noch die Fußnoten
Heinrich Wölfflin
Heinrich Wölfflin (1864-1945) taucht zwar namentlich in Guardinis Werk und Wirken nicht mehr eigens auf, doch hat Guardini – wie Yvonne Dohna-Schlobitten nachweist – durchaus Ideen aus dessen neuer Kunstgeschichte übernommen. Dabei hat auch Wölfflin sich unter dem Eindruck und Einfluss Jacob Burckhardts bereits früh mit Michelangelo auseinandergesetzt, zunächst nur auf einer knappen Seite in seinem Barockbuch, dann erarbeitete er auf 80 Seiten eine kleine Studie über „Die Jugendwerke des Michelangelo“ (München 1891), „die sich wie eine in akademischer Breite ausgewalzte Paraphrase zu jenen wenigen hundert Zeilen im «Cicerone» liest“. Es folgten zwei knappe Essays über die Entstehung der Decke in der Sixtinischen Kapelle sowie deren Stellung innerhalb der „Klassischen Kunst“.
„Die Gestalt Michelangelos liess Wölfflin nicht mehr los, und sie behauptete daher ihre Position in dem seit Herbst 1892 neu konzipierten Werk, von dem ihn auch eine temporäre, eher zerstreuende Miszellenschreiberei nicht mehr abzulenken vermochte: `Die klassische Kunst´.“
In Berlin hatte Wölfflin als führender Kunstwissenschaftler der Burckhardt-Schule großen Einfluss auf den George-Kreis um Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf, gerade auch was die Renaissance- und Michelangelo-Wahrnehmung betraf. Für das Wechselverhältnis von Wölfflin, Simmel und ihren Schülern sei hier auf Wilhelm Worringers 1907 bei Wölfflin eingereichte und 1908 erschienene Doktorarbeit über „Abstraktion und Einfühlung“ verwiesen.
Es ist daher keineswegs als zufällig anzunehmen, wenn ausgerechnet Heinrich Wölfflin zusammen mit Paul Schubring die Michelangelo-Ausgabe Guardinis in einer Sammelrezension „Kunstgeschichte und Kunstgewerbe“ für den „Literarischen Jahresbericht des Dürerbundes“ bespricht.
„Die Lektüre dieser Briefe und Sonette bietet einen Genuß, der nicht ganz leicht erkauft wird. Man darf an diese Briefe nicht mit der Erwartung herangehen, als ob sie ein Gegenstück zu dem Briefwechsel Goethe-Schiller oder Wagner-Liszt bildeten. Es gehört schon eine gewisse Vertrautheit mit den Ausdrücken der Renaissance und eine lebhafte Teilnahme auch für die Nebensächlichkeiten dazu, um in diese oft trockenen und von wenig Lebensfreude diktierten Briefe des Mannes eindringen, den wir in Marmor so gut zu kennen glauben. Andererseits aber ist gerade bei Michelangelo das Menschliche so reich, tief und widerspruchsvoll, daß die Entschleierung seiner seelischen Geheimnisse ungemein spannend ist.“
Der Mitautor Paul Wilhelm Julius Schubring (1869-1935) wiederum war evangelischer Theologe und Kunsthistoriker, der nach seiner Promotion im Jahr 1898 von 1900 bis 1920 in Berlin Kunstgeschichte lehrte.
Georg Simmel
Georg Simmel dagegen bleibt für Guardini auch in den Jahrzehnten nach dem Berliner Semester nicht nur ideell, sondern auch ganz konkret in seinen Briefen an Josef Weiger und als Fußnotengeber in seinen Werken gegenwärtig. Dies wurde mittlerweile insbesondere auch im Blick auf Guardinis Gegensatzlehre wahrgenommen, nicht aber im Blick auf Michelangelo und die damit zusammenhängenden, damals in diesen Kreisen virulenten Fragen der „Kunsterkenntnis“ .
Dabei liegt „Michelangelo“ in Berlin insbesondere über Georg Simmel und seine Kreise geradezu in der „Luft“: Der als Michelangelo-Verehrer geltende Simmel hatte sich bereits 1889 mit „Michelangelo als Dichter” auseinandergesetzt. Darin verwies Simmel auf ein Sonett, das Michelangelo Dante geweiht habe, mit dem Tenor, er möchte gern alles Leiden, das Dantes Leben erfüllte, auf sich nehmen und würde das größte Glück der Erde hingeben, wenn er nur seinen Genius besäße. Auch sein 1906 erschienen Aufsatz über „Florenz” geht zentral um Michelangelo. 1910 veröffentlichte Simmel dann seinen Aufsatz „Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur”. Beide Texte können mit als Ergebnis eines Diskurses angesehen werden, der just 1905 in Berlin geführt wurde. Denn damals hatte auch Rainer Maria Rilke in Berlin sein Philosophiestudium wieder aufgenommen und dabei vor allem Simmel gehört. Es wird von Gesprächen zwischen Simmel und Rilke über Rodin und Michelangelo berichtet. Ab 1915 übersetzte Rilke selbst sogar in zehnjähriger Arbeit die Sonette Michelangelos, die als „Dichtungen des Michelangelo” schließlich 1926 posthum erschienen sind. Ob Guardini und Rilke sich in Berlin persönlich begegnet sind oder sich sogar kennengelernt haben, muss offenbleiben, das literarische Interesse für Rilke bei Guardini ist jedoch schon sehr früh anzusetzen.
Rilke, Georg Simmel, Stefan George und die Michelangelo-Rezeption
Rilke, der von 1897 bis 1901 mit Lou Andreas-Salomé liiert war, plante mit dieser gleich zu Beginn der Beziehung 1897 eine Florenz-Reise, um ihre jeweiligen Renaissance-Studien zu vollenden. Nachdem seine Freundin aus familiären Gründen in St. Petersburg aufgehalten wurde, schrieb Rilke ihr ein Tagebuch, das später als „Das Florenzer Tagebuch“ (1898) bekannt wurde und in dem er Michelangelo einige Seiten widmete. Schon im „Florenzer Tagebuch“ stellt sich Rilke einen werdenden Gott vor, der „das älteste Kunstwerk“ sei, das alle Völker „aus Sehnsucht“ gebildet hätten, und der nun auch vom Künstler-Menschen „im eigenen Innern“ gebildet und gebaut werde. Die dabei geäußerte Bewunderung für Michelangelo findet sich dann auch in Rilkes ebenfalls noch vor 1900 entstandenen Geschichte „Von einem, der die Steine belauscht“.
1898 erscheint in der Zeitschrift „Die Zukunft“ eine kunstphilosophische Betrachtung zu „Stefan George“ durch Georg Simmel. Selbst darin zieht Simmel den Poeten George in einen Vergleich mit Michelangelo:
„Weil sie [die Dichtung Georges] nicht aus den Leidenschaften geboren ist, wie die Kunst Michelangelos und Beethovens, wirkt sie auch auf sie nicht so vertiefend und dadurch erlösend zurück; sondern wie Giorgione und Bach steht sie von vorn herein im Hellen; und ihr Befreitsein und Befreien vom Dunkel ist nicht ein Aufstreben aus den heißen Tiefen erlösungsbedürftiger Leidenschaft, sondern ein Jenseits ihrer.“
Zu den persönlichen Beziehungen Georg Simmels zu Stefan George schreibt Michael Landmann:
„Simmel lernte George Mitte der 90er Jahre kennen im Haus seiner langjährig - nahen Freunde Reinhold und Sabine Lepsius, bei denen George mehrfach vor einem geladenen Kreis seine Gedichte vortrug. Wenn George in Berlin war, pflegte er damals gern, bevor sein Verleger Georg Bondi ihn in sein Haus im Grunewald lud, in Westend zu wohnen. Dort wohnten auch Simmel (seit 1900) und Lepsius: ein Besuch war ein Besuch unter Nachbarn.“
Bei Georges erster Lesung im Hause Lepisus am 14. November 1897 waren Wolfskehl, Luise Dernburg, Estella und Richard M. Meyer, Gertrud und Georg Simmel, Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé und Marie von Bunsen anwesend. Simmel gehörte durchgehend zu diesem von den Ehepaaren Wolfskehl, Lepsius, Ernst Kantorowicz und Friedrich Gundolf bestimmten George-Kreis. Gerade im Blick auf Gundolfs spätere „Pantheon“-Darstellung, in der Alexander, Hölderlin und Christus die Ordnung der Götter darstellen, Napoleon und Michelangelo Herrscher in einer „mittlere Zone“ sind und zur dritten Gruppe, den „vergöttlichten Menschen“ schließlich Platon, Cäsar und Shakespeare gehören, oder aber nach Säulen geordnet: Alexander, Caesar und Napoleon als „kosmische Helden“, Dante, Shakespeare und Goethe als „kosmische Dichter“ und Buddha, Christus und Mohammed als exemplarische Leidens- und Lehrbilder erscheinen, ist diese Verbindung interessant.
Im Zusammenhang mit Simmels Auseinandersetzung mit Michelangelo muss auch noch auf die Kunsthistorikerin und Lyrikerin Gertrud Kantorowicz hingewiesen werden, die Cousine des Mediävisten und Berliner Georg-Kreis-Mitglieds Ernst Kantorowicz, sowie von dessen Schwester Sophie, die mit dem ebenfalls zum Umkreis um George zählenden Nationalökonomen Arthur Salz verheiratet war. 1903 hatte Gertrud Kantorowicz ihr Studium – unter anderem in Berlin und Zürich - mit einer Dissertation „Über den Meister des Emmausbildes in San Salvatore zu Venedig“ an der Universität Zürich abgeschlossen. Schon während des Studiums in Berlin hatte sie selbst Stefan George kennengelernt, dem sie fortan freundschaftlich zugetan war, sogar so sehr, dass sie sich später 1910/11 eine gemeinsame Wohnung in Berlin Westend teilten. Ebenfalls in Berlin kam sie in engeren Kontakt zu Georg Simmel. Über George selbst, zum Teil aber über Simmel kam sie weiteren Mitgliedern des Berliner George-Kreises nahe, insbesondere Sabine und Reinhold Lepsius, Margarete Susman, Edith Landmann und Karl Wolfskehl sowie Rudolf Pannwitz. Auch Friedrich Gundolf und seinen jüngeren Bruder Ernst lernte sie kennen. In Berlin war sie gezwungen, sich zum Broterwerb als Übersetzerin zu verdingen. Dabei übersetzte sie just im Winter 1905/06 unter anderem auch Gedichte Michelangelos, die aber unveröffentlicht blieben. Zwischen Gertrud Kantorowicz und dem verheirateten Simmel entwickelte sich schließlich eine Liebesbeziehung, aus der die 1907 in Bologna geborene Tochter Angelika hervorging. Die Vaterschaft von Simmel wurde allerdings von beiden und wohl auch einvernehmlich geheim gehalten. Kantorowicz gab das Kind an Pflegeeltern ab und galt bei Besuchen in deren Haus als „Patentante“. Erst nach dem Tod Georg Simmels bekannte sie sich selbst als Mutter und offenbarte Simmel als Vater. Nach 1920 nahm sie die Übersetzung von Michelangelos Sonetten wieder auf. Kantorowicz kam 1942 ins KZ Theresienstadt und starb dort 1945 nur eine Woche vor dem Eintreffen der Roten Armee an den Folgen einer Hirnhautentzündung. Im Jahr zuvor war die Tochter Angelika in Haifa bei einem Unfalls gestorben.
Nebenbei sei erwähnt, dass Jacobowski dagegen George und Wolfskehl wenig schätzte, so dass auch Simmel und Jacobowski eher im Widerspruch zu sehen sind. In seinem Aufsatz „Neue Lyrik“ (1898) spottete Jacobowski über die „Poesie der Kommalosen“ und urteilt:
„Wolfskehl betet George an, George verehrt wiederum Wolfskehl.“
Über Guardinis spätere Verbindung zum Berliner George-Kreis und somit zu Wolfskehl und Gundolf ist noch wenig bekannt. Immerhin ist aber ein sehr persönlicher Brief von Gundolf an Guardini aus dem Jahr 1930 überliefert, in der auf eine vorausgegangene Begegnung angespielt wird.
Der Charon-Kreis
Ein weiterer auf George rekurrierender Kreis bildete sich wiederum um Rudolf Pannwitz und Otto zur Linde um die 1904 gegründete Zeitschrift „Charon“. Pannwitz war zwar ursprünglich Hauslehrer bei Georg Simmel und Reinhold Lepsius und schloss auch Freundschaft mit Karl Wolfskehl; doch distanzierte sich Georg Simmel deutlich von der Zeitschrift „Charon“ und keineswegs nur in der Ablehnung des Ansinnens von Pannwitz, einige Texte seines zwölfjährigen Schülers Hans Simmel darin abdrucken zu wollen. Pannwitz selbst erinnert sich im „Buch des Dankes an Georg Simmel“:
„Meine und Zur Linde´s Monatsschrift „Charon“ – von 1904 an ein paar Jahre hin – wurde von Simmels, wie es nicht anders sein konnte, abgelehnt, mit Ausnahme einzelner Gedichte von mir.“
Zum Berliner Charon-Kreis gehörte außerdem noch der Schriftsteller Hanns Meinke, der später Guardini während dessen Berliner Professorenzeit nahestand und unter dessen Einfluss er zur katholischen Kirche konvertierte. Dieser sah Guardini selbst als Freund an und widmete ihm Gedichte, in denen er ihn geradezu zum „Propheten“ stilisierte. Meinke hat im Dezember 1906 den Sonettenkranz „Das Haus des Lebens“ geschaffen und ihn Michelangelo gewidmet. 1912 schenkte er eine Prachthandschrift davon an Stefan George. Es ist wohl nicht mehr zu klären, ob Guardini Meinke schon während des Berliner Studiensemesters kennengelernt haben könnte.
Jens Peter Jacobsen
Eine nicht unwichtige Koinzidenz in diesem Zusammenhang ist Guardinis Vorliebe für Jens Peter Jacobsen, denn dieser Dichter stand auch bei George und Rilke hoch im Kurs. Während George Jacobsens „Michelangelo-Arabeske“ bereits 1893 gekürzt übersetzt hatte, machte sich Rilke selbst an eine Übersetzung, wohl auch, weil er 1904 mit dem Verleger Holitscher vereinbart hatte, eine Jacobsen-Monografie zu schreiben; einen Plan, den Rilke erst 1910 endgültig aufgegeben hatte. Dass sich der dänische promovierte Botaniker Jacobsen dabei - nach schweren religiösen Zweifeln und einer unglücklich verlaufenen Liebesbeziehung - auf der Grundlage der Evolutionstheorie zu einem entschiedenen Atheisten entwickelte, stellte für Guardini offensichtlich kein Problem dar, dessen stimmungsvolle, gedankenschwere und melancholische Lyrik und Prosa zu schätzen. Auch die Nähe von Jacobsen zur Lebensphilosophie von Georg Simmel dürfte Guardini daher wohl nicht entgangen sein:
„Jacobsen hat ein äußerst feines Empfinden für den Zwiespalt zwischen Leben und Form, dem Simmel nachgegangen ist: zwischen dem Fließen des ganzen Lebens in seiner Unbestimmtheit, und seiner Objektivierung in bestimmten, deutlichen Formen, in denen sich das Fließen realisiert, aber auch verhärtet, an denen es also keine Befriedigung finden kann. Die Form hat in Jacobsens Augen einen Grad der Verfestigung erreicht, der sie ungeeignet und unzureichend erscheinen läßt, nämlich nicht als der Ausdruck des Lebens, sondern als Hindernis für sein Offenbarwerden. Der Intervall, in dem Jacobsen verharrt, ist ein Fragment von Raum und Zeit zwischen den Knospen des Lebens - seinem Hervorgehen aus dem Unklaren - und seiner endgültigen Gestaltwerdung.“
Der Pan-Verlag und Hans Landsberg
Sowohl von seinem Wohnumfeld als auch von seinen Lehrern Simmel und Wölfflin führen also Spuren hin zum Pan-Verlag des jüdischen und linksliberalen Literaturhistoriker, Schriftsteller und Theaterkritiker Hans (F.) Landsberg (1875-1920). Dieser hatte nach dem Abitur in Breslau Deutsche Philologie, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin studiert. Bereits 1898 erschien in der Halbmonatsschrift „Neuer Parnass“ eine Besprechung von Theodor Fontanes „Der Stechlin“. Landsberg promovierte 1900 als Schüler Erich Schmidts mit einer Arbeit über „Georg Büchner und seine Zeit“. Ebenfalls 1900 machte er mit dem Traktat „Los von Hauptmann!“ auf sich aufmerksam, in welchem er die „maßlose Überschätzung“ Gerhart Hauptmanns für die Unterdrückung neuerer literarischer Entwicklungen verantwortlich machte, wobei er selbst Partei für die neuromantisch-symbolistischen Strömungen ergriff. 1902 und 1904 erschienen seine literaturkritischen Texte „Friedrich Nietzsche und die Literatur“ sowie „Die moderne Literatur“. Darin erkannte Landsberg bereits die übersteigerte Verehrung Nietzsches. Auf dem Gebiet der Theaterkritik arbeitete Landsberg zeitweilig für das „Berliner Tageblatt“.
Im Januar 1905 gründete Landsberg dann schließlich gemeinsam mit dem Verleger, Schriftsteller und Übersetzer Erich Oesterheld (1883-1920) den Pan-Verlag. Oesterheld hatte 1906 dann noch einen eigenen literarischen Verlag gegründet, in dem er unter anderem die Bühnenzeitschriften „Deutsche Bühne“ und „Szene“ herausgab. An Oesterhelds Stelle im Pan Verlag trat alsbald Georg Sander.
Noch im Gründungsjahr 1905 erschien in der Reihe „Moderne Zeitfragen“ Landsbergs eigene Abhandlung über „Theaterpolitik“ als Band-Nr. 8. Diese Reihe war mit Ferdinand Tönnies Schrift über die „Strafrechtsreform“ eröffnet worden. Die übrigen Bände stammten von Wilhelm Rein, Julius Kollmann, Helene Stöcker und Ellen Key, Willy Hellpach, Iwan Bloch, Rudolf Klein und Ellen Key. Auch Georg Simmel hat 1905 in dieser Reihe seine Kleinschrift „Philosophie der Mode” veröffentlicht. Nach Simmels Beitrag erschienen dort noch Beiträge von Paul Kampffmeyer, Albert Kalthoff, Karl Thiess, Karl von Bruchhausen und Eduard Bernstein. Doch auch hier ergibt sich kein unmittelbarer Anhaltspunkt, wer Guardini eventuell an den Pan-Verlag vermittelt haben könnte.
In der „Sammlung klassischer Denkmäler der Literatur und Kultur“ unter dem Titel „Das Museum“ waren vor Guardinis „Michelangelo“, der als letzter Band mit der Nummer 8 firmierte, Texte von Andreas Streicher, Alexander Herzen, Goethe, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Napoleons Briefe, Reden und Gespräche sowie die Napoleon-Biografie von Hippolyte Taine gedruckt worden.
Außer diesen beiden Reihen gab es noch die Reihe „Moderne Geister“ mit „Essays zur Kunst und Literatur“ sowie die „Pan Bibliothek“. In ersterer erschienen sieben Nummern mit Texten von Rudolf Klein, Walter Pauli, Viktor Klemperer, Hans Landsberg, Eduard Bernstein und Karl Marilaun. Ob die Bände über Gerhart Hauptmann und Bernard Shaw sowie die im Michelangelo-Buch in der Werbeanzeige als in Vorbereitung angekündigten Essay-Bände über Strindberg, Frenssen sowie weitere angekündigte über Evenssen und Strauß noch erschienen sind, konnte bislang nicht abschließend überprüft werden, ist aber eher unwahrscheinlich. In der sogenannten „Panbibliothek“ gab Hans Landsberg schließlich das „Venusgärtlein“ und Hans Daffis die „Heine-Briefe“ heraus. In dieser Reihe sind wohl nur diese drei Bände herausgekommen.
1909 war Landsberg schließlich Initiator des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller“ (SDS), der dann in der Weimarer Republik zum maßgebenden Berufsverband deutscher Autoren wurde. Der SDS konnte schon am 15. Januar in Berlin als Verein amtlich eingetragen werden mit der Vorstandschaft, die sich bei der konstituierenden Sitzung vom 11. Januar unter den dreizehn Anwesenden bildete mit Georg Hermann als 1. Vorsitzenden, Hans Landsberg als 2. Vorsitzenden und Theodor Heuss als 3. Vorsitzenden, sowie Arthur Loening als Schatzmeister, Ernst Lissauer als 1. Schriftführer und Paul Westheim als 2. Schriftsteller. Im August 1911 hatte der SDS insgesamt 500 Mitglieder. Landsberg war in jedem Fall 1910/11 und 1913 2. Vorsitzender des Schutzverbandes.
Über Bab, Breuer und Sander hinaus gehörten zu Landsbergs Freundeskreis Marie Franzos, Maximilian Harden, Rolf Heise, Max Osborn, Ulrich Rauscher, Arthur Rundt. Mit letzterem zusammen redigierte er von 1910 bis 1914 einen Theaterkalender für den Oesterheld & Co-Verlag und nahm an der Gründung und Weiterführung der Kleist-Stiftung teil. Dagegen erlosch zwischen 1913 und 1918 die Tätigkeit des Pan-Verlages. Während des Ersten Weltkrieges war Landsberg zuerst als Landsturmmann, dann in der deutschen Presseabteilung in Bukarest tätig. Nach Kriegsende kehrte er nach Berlin zurück, starb aber bereits 1920 im Alter von nur 45 Jahren an einer Grippe. Bislang konnten keine Hinweise auf den Verbleib eines Nachlasses von Hans Landsberg oder eines Archivs des Pan-Verlages gefunden werden.
Die beteiligte Übersetzerin Bettina Jacobson
Guardini hatte, wie schon angedeutet, überraschenderweise Zugang zu den bislang noch nicht veröffentlichten Übersetzungen, überwiegend von Sonetten Michelangelos, der anerkannten Übersetzerin Bettina Jacobson (1841-1922). Bettina (auch Bettine oder Betty) Jacobson (auch Jakobson, Jacobsohn, Jakobsohn) kam in Braunsberg als Tochter des selbst in Königsberg geborenen, dann aber in Braunsberg praktizierenden jüdischen Arztes Jacob Jacobsen auf die Welt. Sie blieb unverheiratet und lebte zuletzt in Straßburg, Thomasstaden 3.
Zusammen mit ihrer Mutter war Bettina Jacobson im April 1882 Teilnehmerin der Zusammenkünfte bei Malwida von Meysenbug (1816-1903) in Rom, als Paul Rée seine Philosophie dreimal wöchentlich im kleinen Kreis vortrug. Dabei ebenfalls anwesend war zum Beispiel Schriftstellerin Lou von Salomé. Jacobson wurde wohl auch mit Friedrich und Elisabeth Nietzsche persönlich bekannt, während sich diese im Mai/Juni 1883 in Rom aufhielten und ebenfalls im Kreise Meysenbugs verkehrten. Elisabeth Nietzsche hat Jacobson dann im Oktober 1884 in Straßburg wiedergetroffen. Meysenbug selbst verarbeitete in ihrem schriftstellerischen Werk ebenfalls mehrmals Michelangelos Schaffen und Leben, so auch im ersten Kapitel in ihrem „Roman aus dem viktorianischen England“ mit dem Titel „Florence“ und in ihrem Aufsatz „Frauen“, in dem sie über die Beziehung zwischen Michelangelo und Vittoria schreibt. Posthum wurde eine Übersetzung Meysenbugs 1905 im Pan-Verlag veröffentlicht und zwar Alexander Herzens „Russlands soziale Zustände“.
Und auch Nietzsches Urteil über Michelangelo hatte nicht zuletzt über diesen Kreis „eine ganze Generation jüdischer und deutscher Liebhaber Michelangelos“ beeinflusst, so wie sie in einem nachgelassenen Fragment von 1884 zum Ausdruck kommen, wonach Michelangelo „durch alle christlichen Schleier und Befangenheiten seiner Zeit hindurch die Ideale einer vornehmeren Cultur gesehn“ habe „als es die christlich-raffaelische ist“. So sei er in seiner Auflehnung gegen die Konventionen und Normen von Stil, Religion und Gesellschaft zum „Gesetzgeber von neuen Werthen“ und zum „Siegreich-Vollendeten“ geworden.
Jacobson hatte zu diesem Zeitpunkt unter anderem schon Dante´s Vita Nuova (Halle 1877) und die Gedichte von Giosuè Carducci (1835-1907) (Leipzig 1880) aus dem Italienischen und die Gedichte von Edgar Allen Poe „Der Rabe“ (1880) aus dem Englischen übersetzt. Später folgten dann noch die Sonette und Kanzonen von Francesco Petrarca (Leipzig 1904).
Ihre Schwester Mathilde Jacobson (1840-1905) wiederum war Hausdame des ab 1866 in Berlin lebenden Schriftstellers Hans Demetrius Hopfen, ab 1888 Ritter von Hopfen (1835-1904). Sie war die sehr verehrte, wenn auch wesentlich ältere Freundin des Schriftstellers Hermann Sudermann (1857-1928), der ab 1877 Hauslehrer von Hopfens Söhnen war. Mathilde Jacobson ist dann aber bereits ein Jahr nach Hopfen früh verstorben. Interessant könnte daher die Beziehung von Hans Landsberg zu Hermann Sudermann sein. Ihm widmete Landsberg – ebenfalls im Pan-Verlag erschienen – immerhin eine Biografie (Berlin 1905). Die andere Schwester Marie Jacobson (1846-1918) heiratete den Arzt Friedrich von Reckling-hausen. Über deren Sohn Heinrich von Recklinghausen sind wenigstens einige biographische Kenntnisse über die drei Schwestern erhalten.
Die drei Schwestern sind zudem Nichten des Berliner Juristen Levin Goldschmidt (1829-1897), dessen Schwester Fanny ihren Vater Jacob Jacobson geheiratet hatte, und Cousine von Otto Joel (1856-1916), dessen Mutter Sara Goldschmidt war. Otto Joel wiederum hat als Bankier in Italien gewirkt und die junge Witwe Bettina Zendrini geb. Kitt (1850-1925) geheiratet, die in erster Ehe mit dem italienischen Dichter und Heine-Übersetzer Bernardino Zendrini (1839-1879) verheiratet war. Sie war schon länger mit Betty Jacobson befreundet, die für sie auch viele Texte ihres verstorbenen Mannes ins Deutsche übersetzte und schließlich auch die Verbindung zu Otto Joel hergestellt hatte. Otto Joel war wiederum mit Luigi Luzzatti (1841-1927) befreundet. Dieser war der Cousin von Giacomo Luzzatti (1851?-1925), für dessen nationalökonomischen Hauptwerk Romano Guardini die Selbstanzeige des Verlages ins Deutsche übersetzt hat. Die Zendrinis, Goldschmidts, Joels und Jacobsons waren jeweils mit dem Schriftsteller Paul Heyse (1830-1914) befreundet, da er und Levin Goldschmidt in Bonn Studienfreunde waren. Er hatte wohl auch Betty Jacobson als Übersetzerin für Bernardino Zendrini gefunden. 1907 erschien wiederum eine Biographie Victor Klemperers über Paul Heyse just im Pan-Verlag. Aber auch hier fehlt die letzte unmittelbare Verbindung zwischen Guardini, Jacobson und Landsberg.
Eine weitere mögliche Querverbindung: Felicie Bernstein und Johannes Moser
In seinen „Berichten über mein Leben“ schreibt Guardini über seinen geistlichen Mainzer Bezugspunkt in Berlin:
„Auch wohnte in Berlin ein Geistlicher aus der Mainzer Diözese, Dr. Johannes Moser, ein etwas schrulliges Genie, bei dem ich hin und wieder einen anregenden Abend verbrachte. [...] Am nächsten Tage traf ich in der Staatsbibliothek Dr. Moser und fragte, ob ich ihn besuchen dürfe. Er sagte freundlich zu, und wie ich abends zu ihm kam, war fast sein erstes Wort: »Sie wollen Theologe werden?« Ich hatte ihm noch nichts gesagt; so empfand ich die Frage, die wahrscheinlich für einen Menschenkenner kein Kunststück war, wie eine Bestätigung. Wir sprachen dann weiter über die Sache, und er, der ein Schüler von Hermann Schell gewesen war, riet mir, nach Würzburg zu gehen.“
Guardini besprach sich also im Blick auf seinen Wunsch, Priester zu werden und Theologie zu studieren, mit dem in Berlin als Aushilfspriester arbeitenden Mainzer Diözesanpriester Dr. Johannes Heinrich Josef Moser (1852-1920), einem Schüler des liberalen, dem Reformkatholizismus zugehörenden Würzburger Theologen Herman Schells, der ihm denn auch dazu riet, bei Schell das Studium zu beginnen. Die Art und Weise der Formulierung legt nahe, dass Guardini nicht erst hier zum ersten Mal mit Moser im Austausch stand. Der gebürtige Mainzer Johannes Moser (1852-1920) zählt zu den katholischen Schriftstellern im Bereich Apologetik, der darüber hinaus aber auch einen Dr. phil. erworben hatte. 1874 wurde Moser in Mainz durch Bischof Ketteler zum Priester geweiht und wirkte vor seiner Berliner Zeit als Seminarlehrer am Schullehrer-Seminar in Bensheim. Ab 1896 redigierte er „Seminarlehrer a.D.“ die neu aufgemachte Zeitschrift „Die illustrierte Zeit. Die Rundschau für die christliche Welt“, mitunter auch „Die Zeit. Die illustrierte Rundschau für die christliche Welt“ genannt, die im Düsseldorfer-Bonner Verlag L. Weber erschien. Er war wohl für diese Tätigkeit ab 1895 als Seelsorger nach Berlin gewechselt, blieb dort aber auch, als die Zeitschrift nach zwei Jahrgängen eingestellt wurde. Mitunter wird er in Berliner Salon-Kreisen als „Jesuit“ bezeichnet, was aber nicht nachweisbar und auch nicht wahrscheinlich ist. Insbesondere scheint er im Kreis der jüdischen Kunstmäzenin Felicie Bernstein verkehrt zu haben, zu dem unter anderen auch das selbst einen Salon führende Malerehepaar Reinold und Sabine Lepsius gehörte. In diesen Berliner Salon-Kreisen galt Moser außerdem als Musikfachmann. Denn neben seiner Priestertätigkeit tat er sich auch als Musiker und Instrumentenbauer hervor. Im Zusammenhang mit in der Fachliteratur so genannten „Moser-Klavier“ hatte er sogar mehrere Patente angemeldet, was die Kennzeichnung Mosers durch Guardini als „schrulliges Genie“ durchaus nachvollziehbar macht. 1903, 1905 und 1907 wird er im Litteratur-Kalender jeweils mit dem Fachgebiet „Musiktheorie“ in der Luitpoldstr. 30 geführt.
Trotz dieser vielen Namen, Kreise und Bezüge ist über die konkreten Entstehungs- und Veröffentlichungsbedingungen und -kontexte Guardinis noch nicht viel gewonnen worden, wohl aber über den „Geist“ der damaligen Michelangelo-Renaissance, an der Guardini somit seinen durchaus respektablen Anteil hatte.
Zeitgenössische Aufnahme (1907-1913)
Fehlen daher nur noch einige Informationen über die zeitgenössische Aufnahme des Bändchens. Der Vorabdruck im von Theodor Wolff redigierten „Berliner Tageblatt“, veranlasst durch den Leiter der literarischen Rundschau beim Berliner Tageblatt, Felix Lorenz (1875-1930), enthielt auch gleichzeitig eine erste Würdigung:
„Nun liegt mir der Abzug einer in Kürze erscheinenden Neuausgabe vor: Michelangelos Gedichte und Briefe (Berlin, Pan-Verlag), von R. A. Guardini herausgegeben und mit einer Anzahl der besten Strophen des Meisters in einer neuen Übertragung von Bettina Jacobson. … Aus den Briefen, die in der guten neuen Übersetzung von Guardini der Neuausgabe der Gedichte angehängt sind, spricht der Geist eines Unbeugsamen, eines Mannes, der keine Redensarten drechselte, der selbst die Größten als seinesgleichen erachtete.“
Der Verlag nahm diese Vorab-Rezension für seine Werbeanzeige, die unter anderem in Maximilian Hardens „Die Zukunft“ abgedruckt wurde. Der Rezensent M - wohl für Muth selbst oder für Mumbauer - wird in einer Sammelrezension „Neues über Michelangelo“ auch im „Hochland“ kurz auf Guardinis Michelangelo-Ausgabe verweisen. Über die von Heinrich Wölfflin und Paul Schubring gemeinsam verantwortete Sammelrezension „Kunstgeschichte und Kunstgewerbe“ im „Literarischen Jahresbericht des Dürer-Bundes“ wurde bereits unter Wölfflin berichtet.
1909 verglich ein anonymer Rezensent von Heinrich Nelsons Michelangelo-Übertragung in Ettlingers „Das Literarische Echo“ dessen neue Sammlung der Dichtungen mit Guardinis Auswahl. Beiläufige Erwähnung findet Guardinis Michelangelo in den 1911 erschienenen „Gesammelten Werken“ von Ferdinand Kürnberger, der aber im Grunde nur auf die Rolle des Übersetzers Grasberger in der Auswahl hinweist, sowie im 1913 erschienenen Michelangelo-Buch von Edmund Hildebrandt, der darin „eine vortreffliche kleine Auswahl der Gedichte, aus der auch mehrere unserer Proben stammen“, sah.
Insgesamt blieb die Wirkung der Michelangelo-Sammlung Guardinis im zeitgenössischen wissenschaftlichen und literaturkritischen Bereich sehr gering; im praktischen, gebrauchenden Sinne darf aber angesichts der offensichtlich aufgrund der weiter bestehenden Nachfrage notwendigen dritten Auflage im Jahr 1911 und des somit deutlich über 2000 Exemplare gehenden Verkaufs doch von einer guten Verbreitung ausgegangen werden.
Das unvermittelte „Ende der Renaissance der Renaissance“
Nach dem Ersten Weltkrieg erlosch das Eigen-Interesse an der Renaissance zusehends. Die „neue Kunst“, vor allem der Expressionismus und die Neue Sachlichkeit, traten in den Mittelpunkt. Und in den zunehmend an Bedeutung gewinnenden völkischen Kreisen fand die Renaissance ohnehin keine Beachtung oder wurde im Gefolge von Houston Stewart Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ einschließlich Michelangelo geringgeachtet. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland wurden Dante und Michelangelo derart in ein Nischendasein gedrängt (z.B. von Alfred Rosenberg in seinem Buch „Der Mythos des XX. Jahrhunderts“), dass sie höchstens noch als vorübergehender Stichwortgeber in katholisch-reichstheologischen Kreisen („Kreuz und Adler“) dienten. Daher geriet wohl auch Guardinis Sammlung in Vergessenheit, zumal auch er selbst nach dem Ersten Weltkrieg keinerlei Bezug mehr auf seine Michelangelo-Arbeit nahm.
Alles, was über Michelangelo in seine Betrachtungen zum „Wesen des Kunstwerks“, zur „Beschäftigung mit der Kunst“, in seine methodischen und philosophischen Überlegungen zum Gegensatz und zur katholischen Weltanschauung sowie in seine großen Gestaltbetrachtungen einging, beginnt für ihn selbst bei seiner Rückschau aus seiner Zeit in Mooshausen (1943-1945) erst mit „Vom Geist der Liturgie“, wie er in seinem dritten autobiographischen Bericht schreibt:
„Schon in der Münchener Zeit fallen Versuche, das Kunstwerk philosophisch zu erfassen. Sie haben dann ihren ersten literarischen Ausdruck in meiner Schrift „Vom Geist der Liturgie“ gefunden, und zwar in den Kapiteln „Liturgie als Spiel“ und „Der Ernst der Liturgie“.“
Guardini-Bibliothek
Eine Spurensuche nach Michelangelo in Guardinis erhaltener Gelehrtenprivatbibliothek in München ergibt bezüglich Kunst- und Literaturgeschichte ein verzerrtes Bild, da ein Großteil seines frühen Buchbestandes Ende der zwanziger Jahre als Leihgabe an die von Guardini als Burgleiter aufgebaute Bibliothek von Burg Rothenfels ging, deren Bestand aber 1939 beschlagnahmt, dann vom Werkbund Verlag zurückgekauft wurde, im Verlag in Würzburg gelagert wurde und dort bei der Bombardierung Würzburgs bis auf wenige Exemplare verbrannt ist. Immerhin berichtete Elisabeth Wilmes bezüglich der Bibliothek auf Burg Rothenfels:
„R. Guardinis Verehrung für Michelangelo und die Fresken der Frührenaissance hatten sehr schöne Anschaffungen erbracht.“
So gibt es in der Münchner „Guardini-Bibliothek“ nur drei Bücher mit unmittelbarem Bezug zu Michelangelo. Zum einen als Geschenk von Hans Sedlmayr mit Widmung dessen Buch: „Michelangelo: Versuch über die Ursprünge seiner Kunst“ (GB 2517), dann die Ausgabe von „Michelangelos Weltgericht: Mit einer Lebensbeschreibung von Asconio Condivi“ (Wien 1942, GB 4915) und schließlich die französische Ausgabe „Michel-Ange“ von Romain Rolland (GB 2181). Ob letzteres von der mit Guardini befreundeten Marie Romain Rolland geschenkt wurde, oder ob das Buch noch aus dem Altbestand der Bibliothek stammt, kann nicht mehr geklärt werden. Immerhin ist die „Michelangelo“-Biografie Rollands im gleichen Jahr in Frankreich erschienen wie Guardinis Sammlung der Gedichte und Briefe. Rollands Buch wurde dann allerdings erst 1919 ins Deutsche übersetzt.
Zusammenfassung
Alles in allem zeigt auch dieser biographische und historische Befund, dass Guardini selbst seinem Erstling im Blick auf seine bzw. im Vergleich zu seinen späteren Gestalt-Phänomenologien von Schriftstellern (vor allem Dostojewskij, Rilke, Hölderlin) keinen großen Wert mehr beigemessen hat. Als Beitrag aber zu seiner Gegensatzmethode, seiner Philosophie des Lebendig-Konkreten und seiner katholischen Welt- und in ihr seiner Kunst-Anschauung kann man die Bedeutung dieser kleinen von Guardini herausgegebenen, in Teilen übersetzten und kommentierten Sammlung gar nicht hoch genug ansetzen.