Romano Guardini und die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für die sehende und erkennende Begegnung zwischen Menschen, Tieren und Dingen
Es handelt sich um die deutsche Fassung eines in italienisch gehaltenen und eines voraussichtlich 2026 im Englischen gedruckten Tagungsbeitrag vom 12. Januar 2022. Die hybrid in Rom und virtuell abgehaltene Tagung zum Thema "Threefold seeing" wurde von Yvonne Dohna Schlobitten organisiert.
Ein katholischer und dreifaltiger Weg des Welt-Erkennens
Was ist Sehen und Erkennen für Guardini?
Was ist Begegnung für Guardini ?
Die Begegnungs- und Erkenntnisräume und die Polarität von Oben und Innen
Das Verhältnis von Raum und Zeit
Guardini geht davon aus, dass heute eine „eigentümliche Doppelhaltung“ gegenüber Zeit und Raum herrscht: "Einmal den Versuch, Zeit und Raum zu relativieren; genauer, zu subjektivieren, indem sie zu bloßen Anschauungsformen des Subjekts gemacht werden. […] Anderseits bemerken wir eine Absolutierung von Raum und Zeit. Das neuzeitliche Empfinden nimmt sie absolut. So tut die mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Haltung auf der einen, so die historische auf der anderen Seite. Technizismus und Historismus entsprechen einander. Sie nehmen den Raum und die Zeit absolut“ (Vom liturgischen Mysterium, in ders.: Liturgie und liturgische Bildung, 1992, S. 127).
Im Verhältnis der Neuzeit zur Welt, zu den Dingen, zum Menschen und zur Geschichte gehören „erkenntniskritischer Raum-Zeit-Subjektivismus“ und „ technizistisch-historistischer Raum-Zeit-Absolutismus“ zusammen und bilden die Grundlage dieses Verständnisses. In der „Nach-Neuzeit“ – so Guardini – ändert sich dieses Verhältnis: "In ihm werden die Dinge als objektiv-räumlich und das Geschehen als objektiv-zeitlich gesehen; die Raum- und Zeithaftigkeit aber wird als nicht absolut empfunden. Das Ding liegt nicht nur im Raum ausgebreitet; die Geschehnisse liegen nicht nur in der Zeit auseinander. Das Ding ist nicht nur mit räumlicher "Verkehrs"-Technik; das Geschehen ist nicht nur mit historischer Annäherung zu fassen. Außer den räumlich vermittelten gibt es noch ein unvermitteltes Verhältnis zu den Dingen; und außer dem zeitlich-vermittelten auch noch ein unvermitteltes Verhältnis zum Geschehenen, zur Geschichte" (ebd, S. 128).
Der Mensch "wird" im Raum der gegenständlichen Bestimmtheit des Dings
Guardini ist überzeugt, dass zwischen dem Erkannten und dem Erkennenden eine tiefgreifende räumlich-zeitliche Einheit der Spannung besteht:
""Wahrheit" ist also nicht nur die im Erkenntnisakt des Subjektes zur Geltung kommende in sich fertige Objektivität. Der volle Erkenntnisinhalt ersteht erst in der Erkenntnisbegegnung. Damit ist nicht im mindesten eine Begründung des Gegenstandes durch die Denkkategorien des Subjektes gemeint. Das "Ding an sich" steht "draußen" und ist als solches "fertig". Erkenntnis ist wirklich Begegnung mit dem in sich stehenden Ding. Aber der Sinn der Erkenntnis besteht gar nicht in der Spiegelung des "Dinges an sich", sondern geht darauf, daß im Erkenntnisakt "Welt" werde. Etwas also, was dieser Erkenntnisgegenstand ist - aber auch ich, der Erkennende. Beides zusammen, und mehr als die Summe davon. Das eigentlich "Erkannte" in seiner Fülle ist "Ding in Mir" und "Ich im Ding". Ist Ding, welches, erkannt, Teil meines Lebens wird und darin etwas Neues. Bin ich, der ich, erkennend, mich am Ding definiere, mich auf das Ding hin wage, in das Ding eingehe, im Raum seiner gegenständlichen Bestimmtheit weile und darin etwas werde, was ich nur hier werden kann" (Guardini, Christliches Bewußtsein, 1991, S. 187).
Das Einzelding und die Ganzheit
Das gesuchte „Spurbild“ liegt zunächst in jedem einzelnen Ding, sofern es gemäß diesem „Spurbild“ betrachtet wird. Der deutsche phänomenologische Begriff „Ding“ umfasst sowohl materielle als auch ideelle Dinge, aber auch Themen, Objekte, Pflanzen, Tiere und Menschen. Doch dann liegt das „Spurbild“ auch in den drei „Gesamt-Ganzheiten“ (vgl. Guardini, Vom Wesen katholischer Weltanschauung, in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, 1994, S. 28): „Einmal die Ganzheit der Welt als Inbegriff der äußeren Dinge und Geschehnisse, wozu auch der Mensch seinem physischen Sein nach gehört. Dann der Mensch, insofern er eine geschlossene Einheit in sich selbst bildet und als Einzel-Ich und Gemeinschaft der Welt gegenübersteht. Endlich der absolute Grund und Ursprung von Welt und Mensch: Gott. Auf diese drei Gesamt-Ganzheiten richtet sich der Blick der Weltanschauung, und auf die Einzel-Wirklichkeiten, sofern sie jenen eingeordnet sind. Auf jede in sich selbst, und in ihrem Verhältnis zu den andern. Von jeder gibt es eine Erfahrungswissenschaft und eine Metaphysik. Von jeder auch eine `Weltanschauung´." Guardini nimmt die Gesamt-Ganzheit Gott als Beispiel: Die Metaphysik, die theoretische Wissenschaft von Gott ist die Theologie. Die Erfahrungswissenschaft von Gott hingegen ist "die Mystik, sobald der Mystiker selbst seine Erfahrungen wissenschaftlich zu erfassen sucht." Guardini erinnert für diese Erfahrungswissenschaft an die Arbeiten von Pater Alvarez de Paz oder Pater Auguste Poulain.
Aus dieser Auffassung folgt, dass Guardini die verschiedenen Arten von Welt-Erkenntnis von den verschiedenen Arten von Gottes-Erkenntnis und Selbst-Erkenntnis unterscheidet. Es gibt wiederum geistog-rational-intellektuelle und sinnlich-emotional-intuitive Wege dieser Gottes-Erkenntnis und dieser Selbst-Erkenntnis. An der Universität gehören Theologie als Metaphysik Gottes und Mystik als empirische Wissenschaft von Gott zu den Welt-Wissenschaften. Für Guardini ist die Universität kein Ort direkter oder indirekter Gottes-Erkenntnis oder Selbst-Erkenntnis. In dieser Auffassung gibt es auch eine mentale und sinnliche Welt-Kontemplation Gottes und des Menschen als Selbst, eine Gottes-Kontemplation der Welt und des Menschen als Selbst sowie eine Selbst-Kontemplation der Welt und Gottes.
Guardinis Unterscheidung zwischen zeitlichen "Räumen" und dem ewigen Raum der Trinität
Neben dem physischen Raum der Dinge kennt Guardini den Raum des inneren Lebens, den „Raum“ des Intellekts oder – genauer gesagt – des wahrhaftigen Lebens, und schließlich den persönlichen Raum des gegenseitigen Verständnisses, des Respekts, der Loyalität, der Liebe und der Freundschaft. Ein Mensch kann in all diesen „Räumen“ existieren.
"Im äußeren, denn er hat einen Körper; in dem des Lebens, denn er hat Gemüt; in dem der Wahrheit und Schönheit, denn er ist Geist; in dem der Person, denn er ist Ich und kann zum Du eines anderen Menschen werden" (Guardini, Die letzten Dinge, Topos 461, S. 118).
Nun gibt es laut Guardini bereits einen solchen Raum für die Begegnung innerhalb Gottes, den „Raum“, die „ursprüngliche Sphäre“ des Existieren Gottes: "Das Existieren Gottes wird mit den Worten beschrieben: »das Wort war zu Gott hingewendet.« Darin meint der Ausdruck »Gott« den Vater; »das Wort« den Sohn. Von diesem ist gesagt, daß Er »auf den Vater hingewendet sei«. Damit aber die Aussage ja nicht ins Metaphysische zerrinne, heißt es am Schluß des Prologs: »Gott hat keiner je erblickt; der einzige Sohn, der an des Vaters Brust war, hat Ihn uns geoffenbart« (1,18) Wir sehen, wie da, menschlich gesprochen, zwei einander zugewendet sind im Einvernehmen unendlichen Erkennens und Liebens. Jenes Erkennens, das nicht nur spricht: »ich kenne Dich«, sondern: »ich weiß um Dich«; Jenes Liebens, worin jeder sich dem andern ganz verdankt und dennoch vollkommen frei ist. Möglich aber ist diese Eigenständigkeit und Einheit zu-gleich, diese Ehrfurcht und Nähe durch den Heiligen Geist. Nur durch Ihn ist der Sohn wirklich Er-selbst, und ebendarin Er-selbst auch der Vater; denn der Geist wirkt die allmächtige Fruchtbarkeit und Freiheit der göttlichen Geburt. Nur durch Ihn sind aber Sohn und Vater einiger Gott; denn der Geist macht, daß der Geborene nicht weggeht, sondern sich »zum Vater wendet« und »in ihm bleibt ...« Nun: dieses, was da zwischen dem Vater und Sohn ist; der »Raum«, »in« welchem Vater und Sohn solcherweise einander zugewendet und beieinander sind - das ist die letzte und eigentliche Ewigkeit." (Guardini, Die letzten Dinge, Topos 461, S. 118 f.).
Ausgangspunkt von Guardinis Lehre über die „Spurbild des dreieinigen Gottes“ ist Bonaventuras Ähnlichkeits- und Bildlehre, mit der er sich im Rahmen seiner Dissertation über „Die Lehre des hl. Bonaventura von der Erlösung“ auseinandersetzt. In seiner Habilitationsschrift über „Systembildende Elemente in der Theologie Bonaventuras“ vertieft Guardini seine Untersuchung dieser Theorie (1921, veröffentlicht 1963, hier in S. 13 f. and 76).
1916 veröffentlichte Guardini den Essay "Die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für das sittliche Leben der Gemeinschaft" (in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 1, 2000). Guardini war überzeugt, dass religiöse Wahrheiten nicht bloß theoretische Sätze sind. Wahrheiten suchen vielmehr nach einer Verbindung zum ganzen Menschen und all seinen inneren Fähigkeiten, mit dem Ziel und dem Sinn, seine Absichten und sein Handeln zu verändern. Gott und seine Wahrheiten sind – Guardini zitiert G. K. Chesterton – "wie die Sonne; hineinschauen kann man nicht, aber in ihrem Lichte sehen wir alles andere". Die zugleich ehrfürchtige und tiefgründige Betrachtung muss die Grenze des Mysteriums wahren und dennoch die Verbindung zwischen Dogma und wirklichem Leben herstellen. Und in dieser Absicht wollte Guardini "an einem Beispiel zeigen, wie lebendig die Beziehung dieses unnahbarsten aller Geheimnisse zu unserem täglichen Leben ist: das Dogma von der Trinität als Magna Charta der Pflicht und Würde jeder menschlichen Gemeinschaft" (a.a.O., S. 46).
Für Guardini besteht eine Analogie zwischen der Polarität von Hingabe und Selbsthaltung in der Dreifaltigkeit und in der menschlichen Begegnung: "Der Wille zur Gemeinschaft regelt das Gegenspiel der hingebenden und bewahrenden, der zu sich ziehenden und Abstand haltenden Bewegung der Seele. Er verlangt von den beiden Persönlichkeiten wirkliches Vertrauen […] Aber die gleiche Gemeinschaft verlangt, daß sie Verbindung selbständiger Persönlichkeiten sei. Der Mensch kann dem Menschen nie Mittel zum Zweck, sondern nur Selbstzweck sein; die Freiheit seines Gewissens, seines Urteils, seines Entschlusses darf nicht angetastet werden. Um jede Persönlichkeit liegt ein heiliger Ring, den niemand überschreiten darf, es sei denn, er öffne sich von selbst; ja, bis zu einem gewissen Grade darf er sich selbst nicht öffnen, ohne sich zu entweihen" (ebd., S. 49 f.).
Die Analogie zu den innertrinitarischen Personen und ihren Beziehungen ist für Guardini offensichtlich: "Restloses Verstehen ist dem Vater der Sohn; als vollkommene Liebe verbindet sie der Heilige Geist. Was wir die erste Bewegung der Gemeinschaft nannten; die Hingabe, das Streben zur Einheit, ist hier auf den absoluten Gipfel gelangt […] Zwischen ihnen herrscht vollendete Dieselbigkeit von allem, was Leben und Wesen heißt, denn sie sind nur ein Gott. […] Zugleich aber besteht auch die andere Bewegung, die Selbsthaltung, der Abstand der Persönlichkeiten in der Trinität in endgültiger Vollendung. Denn wenn auch alles in ihr gemeinsam ist, eines nicht: die Personen. Sie verharren unvermischt, unvertauscht, schlechthin unantastbar. Der Vater ist nicht und in keiner Weise der Sohn, und von beiden unverwechselbar unterschieden der Heilige Geist." (ebd., S. 51)
Diese innertrinitarische Gemeinschaft hat einen bedeutenden Einfluss auf das Verständnis der menschlichen Gemeinschaft als Gemeinschaft der Kinder Gottes: "In all ihren Formen ist Menschengemeinschaft ein »vestigium trinitatis«, ein Spurbild der dreieinigen Gottesgemeinschaft. Doch diese ist mehr als bloß Vorbild. In Christus sind wir durch ein neues, über alle Natur hinausgehendes Band vereinigt worden. In ihm sind wir durch das Gnadenwirken des Heiligen Geistes wiedergeboren zur geheimnisvollen Teilnahme an der gleichen göttlichen Natur [1 Petrus 1,3]. Sind Christi Geschwister, des Vaters Kinder, und der Heilige Geist ist unser aller Führer und Freund." (ebd., S. 52 f.)
Im Jahr 1930 fasste Guardini seine Erkenntnisse über das „lumen mentis“ in seinem Essay „Bonaventura. Eine Denkergestalt des hohen Mittelalters" (in: Unterscheidung des Christlichen, Band 3: Gestalten, Mainz (3)1995, S. 17 ff.) zusammen:
"In diesem "Licht" strahlt für Bonaventura die Idee, das ewige Wesens-, Wert- und Sinn-Bild im Geiste auf. Da aber die Idee in Gott "ist", so bedeutet Erkenntnis einen irgendwie gearteten "Kontakt" mit Gott. In der Erkenntnis berührt Gott den Geist mit der Idee, die ja sein lebendiger, urbildlicher Gedanke von dem betreffenden Ding, von dessen Wesens- und Wertfülle ist. Aber, und wieder rühren wir an eines der Grundmotive dieser Denkgesinnung: es gibt keine bloße Wahrheit, keine kalte Richtigkeit. Daher auch kein unbeteiligtes Feststellen von Wahrheit, kein bloß gegenständliches Erfassen. Die Idee ist nicht nur […] das Wesensbild, sondern auch das Wertbild, die Sinn- und Schönheitsnorm des Dinges. Erkennen ist also nicht nur Erfassen von Wahrheit, sondern auch Berührtwerden durch Schönheit und Wert, und ebendamit ist es Liebe. Das Einstrahlen der Wahrheit ist zugleich ein Warmwerden, inflammari; und ist ein moveri, Auslösung innerer Bewegung, Ergriffenwerden durch Wert und Schönheit. Die lebendige Freiheit kommt in Bewegung, und diese Bewegung der Freiheit ist Liebe" (ebd., S. 17 f.).
Für Bonaventura und auch für Guardini ist Erkenntnis ist "immer irgendwie Liebesbegegnung. Ein Gewonnenwerden des Herzens und seiner Freiheit für das Ewig-Werthafte in dieser besonderen Gestalt […] Gestalten ist für Bonaventura ein Durchlichten. Und so wird ausdrücklich gesagt, das lumen mentis sei auch Befähigung zum rechten Tun. Dem entspricht es auch, wenn die Idee unter anderen Beziehungen immer wieder "ars" genannt wird; "ars divina", ["göttliche Kunst"], Kraft der hellen Gestaltung, der klaren Sichtbarmachung des Sinnes; Kraft, die das schafft, was angeschaut und geliebt werden kann" (ebd., S. 18).
"Wenn wahres Erkennen ein solches Berühren des Ewigen ist, Einstrahlung geistigen Lichtes, Angerührt-Werden durch jene ontische Wärme des Wahren, die das Werthafte-Gute ist; wenn Wahrheit sich so […] in lebendige Gestaltkraft umsetzt, wenn also Denken und Erkennen kein Gebrauch eines abstrakten Mechanismus ist, sondern eine Bewegung, ein Tun lebendigen Geistes - dann geht es nicht ohne weiteres vor sich. Dann ist Erkennen nicht Sache einer von selbst arbeitenden Apparatur. Dann genügt zum rechten Erkennen bloße Aufmerksamkeit, logische Sauberkeit und Anstrengung noch nicht, sondern es werden Voraussetzungen in der lebendigen Haltung, im Tun, ja im Sein gefordert" (ebd., S. 18f.).
Sokrates und die Annäherung zwischen dem Erkennenden und der Wahrheit
Bereits 1927 spricht Guardini erstmals vom "ungeheure(n) Erlebnis von der frei machenden Kraft der Wahrheit", die sich beispielsweise in der Haltung eines Sokrates manifestiert. Guardini greift diesen Gedanken 1948 erneut auf:
"Sobald richtig erkannt wird, wird das Wirkliche in das Licht seines Wesens gestellt, und der Sinnraum der Wahrheit öffnet sich. Der Erkennende tritt ein, richtet sich auf, atmet und entfaltet sich. Dieses Sich-Aufrichten, Sich-Weiten und -Festigen, dieses Freiwerden des Geistes in der Wahrheit ist es, was die platonischen Schriften so mächtig erfüllt." Zum Beispiel, wenn Sokrates erklärt, "der Erkennende werde im Schauen der Wahrheit selbst wahrheitsartig und ewigkeitsfähig" (Guardini, Freiheit - Gnade – Schicksal, 1994, S. 41).
Die Übertragung auf die Begegnung mit Kunstwerken
In beiden Texten, „Lebendige Freiheit“ (1927) und „Freiheit - Gnade – Schicksal“ (1948), überträgt Guardini diesen Gedanken auf die Begegnung mit der „vollendeten Gestalt“, also dem Kunstwerk. 1927 stellt Guardini fest:
"Der Sinn des Kunstwerkes besteht darin, daß ein Wesen, ein Verborgenes in Gestalt ausgesprochen ist. Aber nicht so, daß man vor ihm stehenbleiben müßte. Die endgültige Haltung dem Kunstwerk gegenüber ist nicht das Anschauen aus Abstand. Das Kunstwerk ist vielmehr so, daß man in es hineingehen kann. Man kann ihm inne sein; man wird da von geformtem und formendem Sein erfaßt und selbst recht gemacht. Dieses Eingehen in den gestalteten geistigen Raum des Kunstwerkes wird ebenfalls als Befreiung erfahren" (Guardini, Lebendige Freiheit, in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, 1994, S. 108).
Rund zwanzig Jahre später fügt Guardini hinzu, dass der „eigentliche Sinn“ des Kunstwerks darin bestehe, "daß es eine Welt bildet, in welcher sich das Wesen der Dinge und zugleich, mit ihm verwoben, das des gestaltenden Menschen selbst reiner und voller offenbart als in der Wirklichkeit - ebenso wie sich der dargestellte, zunächst bruchstückhafte Ausschnitt dieser Wirklichkeit zu einem Ganzen formt, das ein Symbol des Gesamtdaseins bildet. In diese wesensklare kleine Welt tritt der Schauende ein und ahnt das unmittelbar nie zu ergreifende Ganze. Er wird seines eigenen Wesens inniger gewiß und erfährt eine aus tieferer Wesentlichkeit kommende Formung. Auch darin liegt Freiheit: ein Weitwerden von Blick und Sein in einer Gestalt, welche das wachsende, ringende, bruchstückhafte Leben mit der Verheißung möglicher Vollkommenheit berührt" (Guardini, Freiheit - Gnade – Schicksal, 1994, S. 42).
Oft übersehen wird in diesem Zusammenhang ein Nachwort Guardinis zu Kleists Text „Puppenspiel“ aus dem Jahr 1924. Guardini stellt fest, dass die Betrachter ihrer eigentlichen Aufgabe als Kontemplierende gerne ausweichen, die darin bestehe: "Jenes Stück Menschenwelt aufzurichten, das wir aufrichten sollen, wenn anders wir in der wesenhaften Gemeinschaft von Schöpfer und Schauenden stehen wollen; wenn anders wir wirklich Schauende sein wollen und nicht nur Unterhaltene" (Kleists Puppenspiel (1924). Eine Nachbemerkung, in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 2, 2001, S. 195).
Guardini und das "Lob des Buches"
In der Vorbemerkung seiner Elogie „Lob des Buches“ (1951) berichtet Guardini, er habe sich zu diesem Lob der Bücher verpflichtet gefühlt, „zu einer Zeit, da so viele Bücherliebende ihre Freunde verloren haben, viele andere aber, die solcher edlen Freundschaft fähig gewesen wären, durch die lange Herrschaft des Ungeistes von ihr ferngehalten worden sind“ (Guardini, Das Lob des Buches, in: Wurzeln eines großen Lebenswerks – Band 4, 2003, S. 82). Guardini eröffnet seine Rede mit der Frage: „Liebt Ihr das Buch?“ Diese Frage meint nicht „Bibliophilie“, sondern jene Liebe, die "sich aber auf das Buch selbst und als solches“ richtet. Der Mensch, der Bücher "liebt, […] empfindet es wie ein Geschöpf, das man in Ehren hält und pflegt, und an dessen Leibhaftigkeit man sich freut. […] Diesen wahren Liebhaber des Buches erkennt man schon an der Weise, wie er es aus dem Regal nimmt und aufschlägt, in ihm blättert und es wieder zurückstellt. […] Liebe zum Buch hat jener, der abends in seinem Zimmer sitzt, und es ist still geworden – vorausgesetzt freilich, daß es um ihn, den Glücklichen, dann wirklich still wird – und auf einmal sind ihm die Bücher im Zimmer wie lebendige Wesen. In seltsamer Weise lebendig. Kleine Dinge und doch erfüllt von Welt. Ohne Regung und Laut dastehend, und doch bereit, jeden Augenblick die Seiten zu öffnen und ein Zwiegespräch zu beginnen: stark oder zart, voll Freude oder Trauer, von Vergangenheit erzählend, in die Zukunft weisend oder Ewigkeit rufend, und um so weniger zu erschöpfen, je mehr der zu schöpfen vermag, der zu ihnen kommt“ (ebd., S. 84).
Ausdrücklich vergleicht Guardini dagegen den bloßen Buchnutzer mit dem Tier-Verwerter als jenen, "der das Buch als bloßes Mittel zum Zweck nimmt, und bei dem man ein ähnliches Gefühl hat, wie wenn ein Mensch mit Tieren nur unter dem Gesichtspunkt umgeht, daß er sie wissenschaftlich studieren oder praktisch verwerten kann" (ebd.).
Francis Jammes und die "Gewißheit, daß die Dinge Seelen haben"
Als Guardini bei dem französischen Autor Francis Jammes eine kleine Geschichte entdeckte, die er übersetzen wollte, übernahm er bewusst die Weise, in der Francis Jammes über Dinge erzählte. Guardini vergleicht diesen Weise mit einigen Kunstwerken moderner Maler, vor denen man das Gefühl hat, mit dem Stuhl, der Vase oder den Äpfeln sprechen zu können ("Von den Dingen" (1928), in: Spiegel und Gleichnis, a.a.O., S. 63). Die Quintessenz der Geschichte ist: „Die Gewißheit, daß die Dinge Seelen haben, lebt in den Kindern, in den Tieren und in den Einfältigen" (ebd., S. 65).
Die Seele von Tieren und die Erwartung in der Natur
Bereits in einem Brief an den Schriftsteller Heinrich Hansjakob (1837–1916) vom 15. Januar 1904 offenbarte Guardini seinen Glauben an die Seele der Tiere. Er teile Hansjakobs Ansicht, dass Tiere eine Seele besitzen, auch wenn er für diese Überzeugung oft verspottet wurde. [Werner Scheurer: Heinrich Hansjakob und Romano Guardini, in: Manfred Hildenbrand/Werner Scheurer (Hrsg.): Heinrich Hansjakob (1837-1916). Festschrift zum 150. Geburtstag, 1987, S. 246-251, besonders S. 250].
Obwohl Guardini den Missbrauch des Begriffs der Personalität für Dinge oder Tiere ablehnt, da persönliche Reife, persönlicher Charakter und persönlicher Geist ausschließlich dem Menschen vorbehalten sind, ist er mit Bonaventura und der Heiligen Schrift überzeugt, dass die gesamte Schöpfung Gottes und das menschliche Wirken selbst als „vestigium Dei“ den Charakter der Begegnung, der Verheißung und der Erlösung tragen. Daher schreibt er ihnen jene personalen Anteile zu, die die göttliche und die menschliche Schöpfung als „vestigium Dei“, als „Spurbild“ des Schöpfers, charakterisieren.
Der Verlust des Mysteriums
Guardini schreibt in "Vom lebendigen Gott" (1930): „Wir haben bereits von dem geheimnisvollen Leben gesprochen, das aus Gottes Liebe in den Menschen kommt, "von oben her", "vom Himmel"; das ihm geschenkt wird und doch zutiefst sein eigen und in dem er erst wird, was er eigentlichst sein soll. Was ist es aber mit den Dingen um uns her? Dieses Geheimnis des neuen Lebens - gibt es das nur für den Menschen? All die Dinge der weiten, reichen Welt: die ragenden Berge, die Bäume in der Fülle und im Rätsel ihres stillen Lebens, die Schönheit der Gestirne, die unermeßbaren Gewalten des Alls, das Abgründige der Welt, so tief, so seinsgewaltig sich selbst bezeugend - was ist's damit? All das Große, das Kostbare ringsum - fällt das aus dem Geheimnis des geschenkten Gotteslebens heraus? Reicht dieses Leben nur so weit, als der Mensch reicht? Manche Menschen haben das Gefühl, in der Natur liege eine tiefe Erwartung. Da sei mehr und anderes als nur Dinge, die man greifen und brauchen kann. […] Im Römerbrief heißt es: Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung war der Vergänglichkeit unterworfen; nicht freiwillig, sondern um dessentwillen, der sie unterwarf, auf Hoffnung, dahin, daß auch sie, die Schöpfung, von dem Dienste der Verwesung soll befreit werden zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Wissen wir ja doch, daß die ganze Schöpfung mitseufzt und in Wehen liegt bis jetzt" (Röm 8,19ff)“ (Guardini, Vom lebendigen Gott, Topos 104, S. 78).
Der hl. Franziskus und das "Großes verheißende Geheimnis"
Guardini fährt damit fort, dass es nur wenige Erwachsene gibt, die auf einer höheren Ebene einen ähnlich großen Einfluss auf ihre Umwelt ausüben. Einer von ihnen war der heilige Franziskus. In solchen Persönlichkeiten wird deutlich, was der heilige Paulus im Brief an die Römer meinte.
„Diese Herrlichkeit der Kinder Gottes hat angefangen, in Franziskus und um ihn her offenbar zu werden. In seiner Nähe hat die Welt begonnen, selig zu werden. In seinen Augen und in seinem Herzen und in seinen Händen haben die Dinge begonnen, anders zu werden, als sonst ... Das ist ein großes verheißendes Geheimnis“ (ebd., S. 80).
Zusammenfassung
Guardini schrieb bereits 1916: "Dieses "Band der Gnade" gibt allein den Menschen die sittliche Kraft, das Wesensziel der Gemeinschaft zu verwirklichen, wirklich ein lebendiges "Spurbild" der Hochheiligen Dreieinigkeit zu werden. So kommt ihm aus der Trinität nicht nur das Vorbild des Gemeinschaftslebens, sondern auch die Kraft, es zu erreichen" (Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 1, 2000, S. 53).
Dies gilt jedoch nicht nur für das Verhältnis zwischen Person und Gemeinschaft, sondern für alle Begegnungen zwischen Menschen und anderen Wesen, ob mit dem Sinn, die Wahrheit zu erkennen oder die Wahrhaftigkeit zu verwirklichen. In seinen Ethikvorlesungen in den 1950er Jahren fügte Guardini hinzu: "Erkennen bedeutet, daß im Geist des Menschen der Sinn des Seins offenbar wird. Das heißt aber, daß an ihm, an dieser ihm zugewiesenen Stelle der Geschichte sich der Sinn der Welt erfüllt. Daß hier recht eigentlich erst Welt wird. […] Die eigentliche Welt geht aus der Begegnung zwischen mir und dem Vorhandenen hervor: in unserem Fall aus jener Begegnungsform, die Erkenntnis heißt. Darin wird die bloß vorhandene Welt zur erkannten und gewinnt so ihre endgültige Dimension. Dadurch erfüllt […], der Mensch den göttlichen Auftrag, immerfort die Welt zu vollenden, und darin "Bild und Gleichnis" des Schöpfers zu werden“ (Guardini, Ethik, 1993, S. 736 f.).