Impuls: Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen

Aus Romano-Guardini-Handbuch
Impuls: Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen

Zur Pfingstnovene habe ich am 24. Mai 2004 im Kloster Benediktbeuern folgenden Impuls über Guardinis Vortrag auf dem Berliner Katholikentag von 1952 gehalten:

Lied I: Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt (von Kathi Stimmer-Salzeder)

Refrain: /: Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt, ruft ihn an, solang´ er nahe ist. :/ Sucht den Herrn mit aller eurer Phantasie, sucht ihn nicht in Himmeln weit und fern. Sucht den Herrn in allem, was euch hier umgibt, tut euch auf, wenn er euch nahe ist.

1. Strophe: Mensch, kehr´ um auf dem Weg, der dich ins Verderben führt, scheint er auch bequem und breit und so leicht zu gehen. Kehre um zu deinem Gott, der Erbarmen hat mit dir. Groß ist er im Verzeihn!

2. Strophe: Mensch, du suchst, und dir scheint, Gott hat dich schon längst vergessen. Lass nicht ab, gib nicht auf, denn du hast sein Wort: Lässt denn eine Frau ihr Kind, eine Mutter ihren Sohn? - Ich verlasse dich nicht!

3. Strophe: Mensch, du gehst hoffnungslos, voller Furcht vor deinesgleichen. Was dich lähmt, was dir droht: Zukunft soll nur Zufall sein? Hab´ doch Mut und lass die Angst, denn der Mensch und auch sein Werk stehn in Gottes Macht.

Der Grundgedanke

Der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini hat 1952 beim Katholikentag in Berlin einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“.

Guardinis Grundgedanke war folgender: Seit der Neuzeit hat der sogenannte „aufgeklärte Mensch“ den Anspruch erhoben, sein Dasein und sein Werk aus ihm selbst heraus zu verstehen und ließ dabei Gott los.

Fabel "Die Spinne und der Faden nach oben"

Dieses Loslassen müssen wir verstehen wie in folgender Fabel, die von einer Spinne erzählt wird: Es war einmal eine Spinne. Sie lebte in ihrem Netz herrlich und in Freuden. Alles war gut, bis sie einer Einladung zu einem gelehrten Vortrag bei einer Spinnenversammlung folgte. Aufmerksam hörte sie zu, bis der Redner sagte: "Die Welt ist anders geworden. Ihr müsst euch anpassen und mit Altem aufhören. Und vor allen Dingen müsst ihr rationalisieren!" Der Vorwurf, rückständig zu sein, machte die Spinne unruhig. Als sie nach Hause kam, sah sie sich sofort ihr ganzes Netz an. Aber kein Faden war überflüssig. Jeder schien für ihre Arbeit dringend notwendig. Sie entdeckte kein Loch im Netz. Die Spinne war ganz verzweifelt und wurde vor Angst fast krank. Schließlich aber fand sie einen Faden, der gerade nach oben lief. In diesem Faden hatte sich noch nie eine Fliege gefangen. Er war also unrationell. Weg damit! Die Spinne biss den scheinbar unnützen Faden ab - und das Netz fiel in sich zusammen. Es war der Faden, an dem das ganze Netz aufgehängt war.

Der neuzeitliche Mensch und seine Bilder von sich selbst

"Als der neuzeitliche Mensch also Gott losließ, wurde er sich selbst unbegreiflich."

Guardini führt dazu beispielhaft sechs charakteristische Bilder an, welche sich Menschen in der Neuzeit von sich selbst gemacht haben:

  • Das Menschenbild des Materialismus, nach dem der Mensch nur die Materie ist, nichts als ein hochkomplizierter Stoff, aus dem sich alles, sogar der menschliche Verstand und Geist entwickelt lässt.
  • Das Menschenbild des Idealismus, nach dem das Erste und Eigentliche stattdessen der Geist ist, und zwar der absolute Geist, der Weltgeist. Weil dieser mächtig werden will, erzeugt er die Materie. Im Menschen will der Weltgeist zum Bewusstsein seiner selbst gelangen.
  • Das Menschenbild des Soziologismus wiederum besagt: Der Einzelne für sich ist nichts; er ist etwas nur aus dem Ganzen heraus. Der Mensch und sein Werk gehen aus der Gesellschaft hervor. Der Mensch ist Erzeugnis und Organ der Gesellschaft, sonst nichts.
  • Das Menschenbild des Individualismus dagegen betont: Nur der Einzelne zählt. Nur als Einzelner hat der Mensch Bewusstsein und Schaffenskraft; nur als solcher Verantwortung und Würde. Das Viele, das Ganze dagegen sei nur Masse.
  • Das Menschenbild des Determinismus sieht alles nach unabänderlichem Zwang geschehen. Die menschliche Freiheit ist danach bloße Illusion. Der Mensch und ist ein Gebilde, das aus Notwendigkeiten entsteht; und sein Leben ist ein Vorgang, der sich im Zwang der Weltgesetze vollzieht.
  • Das Menschenbild des Existentialismus hingegen sieht den Menschen vollkommen frei. In jedem Augenblick entscheidet er aus einer souveränen, richtiger gesagt, verzweifelten Freiheit über sein Tun. Er setzt sich selbst seinen Sinn und bestimmt sein eigenes Sein. Je mehr er diese Freiheit vollzieht, wird er erst zum Mensch.

Aktuell könnten wir noch eins hinzufügen:

  • Das Menschenbild der Spaßgesellschaft und das Menschenbild der Leistungsgesellschaft. Nach dem einen ist der Mensch erst Mensch, wenn er sich selbst verwirklicht und dabei einen hohen Spaß, Genuss und Luxus erzielt; nach dem anderen zählt nur, was der Mensch leistet, an seinen Erfolgen wird er gemessen und daran ob er „funktioniert“.
  • Und so fort

Die unzähligen Versuche des Menschen, sich selbst zu deuten, spielen also immer wieder zwischen den beiden Polen: sich absolut zu setzen, oder sich preiszugeben; den höchsten Anspruch auf Würde und Verantwortung zu erheben oder sich einer Schmach auszuliefern, die um so tiefer ist, als sie gar nicht mehr empfunden wird.

  • Entweder sich ganz auf sich selbst gestellt zu sehen; ohne Ordnungen, die einen tragen, ohne Normen, die einen verpflichten, hinausgeworfen ins Irgendwo, zu dem ebenso gewaltigen wie furchtbaren Schicksal, in jedem Augenblick sich selbst bestimmen zu müssen.
  • Oder: sich nur als ein Element im Weltall zu sehen; ein Ding unter Dingen; eine Zelle im Staat, die für sich selbst keinen Sinn hat, sondern im Ganzen aufgehen muß.

Der Ausweg

Guardini sieht hier nur einen Ausweg:

  • Der Mensch, der seinen Namen immerfort aus dem Namen Gottes, und seinen Auftrag vom wirklichen Herrn, Jesus Christus, empfängt, der Christ also, muss gegen diese Menschenbilder entschieden auf Distanz gehen und einsehen, dass nur wer Gott kennt, auch ein richtiges Bild von sich selbst entwerfen kann.
  • Kennen also im umfassenden Sinn: erkennen und anerkennen. Gotteskenntnis als Gegenteil von Gottvergessenheit.

Deuteronomium 8, 14-18

Die Gottvergessenheit als solche ist aber nicht ein rein neuzeitliches, sondern ein allgemein menschliches Problem.

Denn schon nach der Ursünde hat Gott sich durch den Mund der Propheten selbst in unsere Welt hinein bezeugt und die Menschen gemahnt, sich nicht selbst zu überheben. Hören wir zum Beispiel aus dem achten Kapitel des Buches Deuteronomium:

Dtn 8, 14-18: Dann nimm dich in Acht, dass dein Herz nicht hochmütig wird und du den Herrn, deinen Gott, nicht vergisst, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat; der dich durch die große und Furcht erregende Wüste geführt hat, durch Feuernattern und Skorpione, durch ausgedörrtes Land, wo es kein Wasser gab; der für dich Wasser aus dem Felsen der Steilwand hervorsprudeln ließ; der dich in der Wüste mit dem Manna speiste, das deine Väter noch nicht kannten, (und der das alles tat,) um dich gefügig zu machen, dich zu prüfen und dir zuletzt Gutes zu tun. Dann nimm dich in Acht und denk nicht bei dir: Ich habe mir diesen Reichtum aus eigener Kraft und mit eigener Hand erworben. Denk vielmehr an den Herrn, deinen Gott: Er war es, der dir die Kraft gab, Reichtum zu erwerben, weil er seinen Bund, den er deinen Vätern geschworen hatte, so verwirklichen wollte, wie er es heute tut.

Doch all diesen prophetischen Mahnungen zum Trotz hielt der Mensch daran fest, für sich allein oder als Kollektiv selbst Gott zu sein und lief in dieser Einbildung allerlei Götzen nach.

Der Mensch als Ebenbild von Gottes Sohn

Für uns Christen wurde dann in Christus sogar das Menschenbild zum Mittel für die Menschwerdung des ewigen Sohnes Gottes in der Welt:

  • „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ heißt es im Johannesevangelium (Joh 14,9)
  • Und Paulus ergänzt im Brief an die Römer: Der neue Mensch „ist nach dem Bild von Gottes Sohn gestaltet“ (Röm 8,29)

Erneuter Abfall

Doch auch nach Christi Geburt kam es erneut zum Abfall:

  • zunächst durch das Mittelalter hindurch nur von Einzelnen
  • in der Neuzeit aber lösten sich dann viele, gerade der Einflussreichen und Verantwortlichen von Gott.
  • Und so wurde auch der Mensch wieder zu einem „gespenstischem Ding zwischen Halbgott und Ameise“, wie Guardini sagt.
  • Und dieser Zustand hält bis heute an.

Guardinis Rat

Was rät uns nun aber Guardini?

  • das falsche Spiel und den falschen Ernst in der Welt beim Namen zu nennen, den bloßen Spaß und den Todernst in unserer Welt anzuprangern.
  • das Spiel der Gottessuche ernsthaft und nicht nur zum Spaß wiederaufzunehmen. Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt, heißt es bei Jesaja und das Neue Testament fordert uns auf: Wer suchet, der findet.
  • dabei darauf zu achten, dass wir uns als Gläubige nicht selbst mit vorschnellen Gottesbildern zufriedenzugeben, ihn nach dem Motto „Kenn ich schon“ in altbewährte Schubladen zu stecken. Es sind nicht nur die Ungläubigen, die durch ihr Verhalten irgendwelche Götzen an die Stelle Gottes setzen, sondern es gibt auch im Glauben falsche Gottesbilder.

Gott ist

  • weder im Sinn eines falsch verstandenen Vorsehungsglauben ein Marionettenspieler, der alle Fäden in der Hand hält und die menschliche Freiheit zur Makulatur macht,
  • noch ist er der unbeteiligte ganz Andere, der uns zwar geschaffen hat uns aber dann unserem Schicksal überlassen hat.
  • auch ist er nicht der „liebe Gott“, der uns alle, alle in den Himmel kommen lässt,
  • und genauso wenig ist er der „strafende Gott“, der die Welt in Vorgriff auf den Weltuntergang jetzt schon mit allerlei Katastrophen und Krankheiten abstraft“.
  • sondern er ist der menschenfreundliche Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, der uns Menschen als Partner ernst nimmt und sich keinen Spaß mit uns macht, sondern jenes „göttliche Spiel“ mit uns spielt, an dessen Anfang unsere Erlösung und an dessen Ende die himmlische Gemeinschaft mit Ihm steht.

Die Eucharistie als Ort der Vergegenwärtigung des menschenfreundlichen Gottes

Und vor allem empfiehlt uns Guardini die Eucharistie als Ort der Vergegenwärtigung dieses menschenfreundlichen Gottes. Guardini beschrieb die Liturgie als richtiges Verhältnis von Ernst und Spiel. Es geht also nicht darum, dass sie Spaß macht, auch darf sie nicht todernst sein. Es geht in ihr darum, Gott ernst zu nehmen und sich auf sein „göttliches Spiel“ mit uns einzulassen.

Abschlussgeschichte: Keiner sucht mich

Das Versteckspiel Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst mit einem anderen Knaben Verstecken. Er verbarg sich gut und wartete, dass ihn sein Gefährte suche. Als er lange gewartet hatte, kam er aus dem Versteck, aber der andere war nirgends zu sehen. Nun merkte Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht gesucht hatte. Darüber musste er weinen, kam weinend in die Stube seines Großvaters gelaufen und beklagte sich über den bösen Spielgenossen. Da flossen Rabbi Baruch die Augen über und er sagte: "So spricht Gott auch: 'Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.'"

Lied II: Ihr Menschen seht (von Kathi Stimmer-Salzeder)

Refrain: Ihr Menschen seht, er ist euer Gott, er ist euer Anfang, er ist euer Ziel. Und wo ihr geht, führt euch seine Hand, denn er hat gesagt: Ich bin bei euch!

1. Strophe: Hört ihn an, ihr, die ihr glaubt, ihr könntet eure Welt zusammenzimmern aus Wänden ohne Fenster hin zum Ewigen, durch die das Licht in vielen Farben bricht.

2. Strophe: Hört ihn an, die ihr schafft, so, dass euch keine Zeit mehr bleibt zum Atmen. Der Leib ist nur ein Teil von euerm Ganzen, er darf nicht Kerker eurer Seele sein!

3. Strophe: Hört ihn an, ihr, die ihr meint, dass alles gut ist, was euch Lust bereitet. Verschwendet nicht im Unrecht eure Kräfte Und achtet auch der andern Menschen Recht!