Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur
163 (G 25/ORG 21X/OO II-1): Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur, in: Die Schildgenossen, 6, 1926, 4 (Juli 1926), S. 281-315 [Mercker 0215];
Nachdrucke und Auszüge
- eingegangen in: Unterscheidung des Christlichen, Mainz 1935; (2)1963: I. Aus dem Bereich der Philosophie (G 25), (3)1994, S. 164-205 [neu aufgenommen]
Guardini-Konkordanz
Übersetzungen (in mind. 4 Sprachen)
- Křesťanství a kultura (Christentum und Kultur), in: Kurs 24, Stará Říše 1931, ins Tschechische übersetzt von Franz=František Pastor [neu aufgenommen]
- Liturgie jako hra. Křetanství a kultura, 1935 (gemeinsam mit Guardini, Liturgie als Spiel) [neu aufgenommen]
- Gedachten over de verhouding tussen christendom en cultuur (1926), in: Peilingen van het christelijk denken, Verzamelde studies 1923-1963, Tielt/Den Haag 1965 (Lannoo), S. 171-216; ins Niederländische übersetzt Henri van der Burght [Mercker 1656];
- Italienisch:
- ORG 21X: Pensieri sul rapporto tra cristianesi-mo e cultura, in: Opera di Romano Guardini 21X: Natura, cultura, cristianesimo. Saggi filosofici, Brescia 1983; 2000; ins Italienische übersetzt von Adolfo Fabio, Giuseppe Scandiani, Giulio Colombi (aus: Teil 1 und 2 des Sammelbandes „Unterscheidung des Christlichen“, 1963) [neu aufgenom-men]
- OO II-1: Pensieri sul rapporto tra cristianesimo e cultura, in: Opera Omnia II-1: Filosofia della religione, 2008, ins Italienische übersetzt von Andrea Aguti [neu aufgenommen]
- Pensiamentos sobre la relación existente entre cristianismo y cultura, in: Cristianismo y sociedad, Salamanca 1982, S. 127-160 (Ediciones Sígueme), ins Spanische übersetzt [Übersetzer unbekannt] [neu aufgenommen]
Sekundärbibliographie
- Hans Mercker, Christliche Weltanschauung als Problem, 1988, S. 114-116
- Alfons Knoll: Glaube und Kultur bei Romano Guardini, 1994
- Joachim Reber: Die Welt des Christen: philosophische Untersuchungen zum Welt-Konzept Romano Guardinis, 1999, 1.2. Existenzschichtung am Beispiel des Aufsatzes "Gedanken zum Verhältnis von Christentum und Kultur", S. 94 ff.
Zusammenfassung und Kommentar (Helmut Zenz)
Im Wintersemester 1925/26 hielt Guardini eine Vorlesung über "Christentum und Kultur im Anschluss an die Problemstellung Sören Kierkegaards". Er hat die grundlegenden Gedanken dann unter dem Titel “Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur” dann in den “Schildgenossen” veröffentlicht. Auch darin verwies er zunächst darauf, dass "der - durchaus vorläufige - Versuch, in diesen Fragen Fuß zu fassen, ... auf einer Auseinandersetzung mit Sören Kierkegaard beruht"[UdC, 1935, S. 145, Anm. 1.; UdC (3)1994, S. 164].
Zunächst haben dabei für Guardini “bloße Natur” und “bloße Kultur” den Charakter von “Grenzbegriffen”. Keiner von beiden komme unvermischt vor. Allein die Betrachtung sogenannter “reiner“ Natur bedeutet Wahl, Wertung, Vergleich, erzeugt nach Guardini also schon “Kultur” [UdC, 1935, S. 145; UdC (3)1994, S. 164]. Und umgekehrt setze Kultur “naturgegebenes menschliches Sein und naturgegebene Dinge voraus”[UdC, 1935, S. 145; UdC (3)1994, S. 164]. Guardini war überzeugt, dass die Betrachtung von Natur und Kultur in ihrem Verhältnis zum Christentum zunächst das Christentum selbst befragen muss und nicht von irgendwelchen “vorgesetzten Maßstäben” ausgehen darf [UdC, 1935, S. 146 f.]. Und erste Überlegungen zum Verhältnis von Kultur und Religion führten ihn zu dem Ergebnis:
“Die beiden geschichtlich in Annäherung gegebenen Grenzformen des Verhältnisses wären danach folgende: Das Religiöse streicht das Kulturelle aus. Oder aber, das Kulturelle verdrängt das Religiöse, beziehungsweise saugt es auf. Dazwischen liegen unbegrenzt viele Möglichkeiten.”
Dennoch hätten “beide Grenzhaltungen eindeutige Kulturen aufgebaut ... Asketische Haltung im Osten, wie weltbejahende im Norden.” Alle anderen geschichtlichen und kulturellen Positionen “erscheinen sämtlich als Abwandlungen innerhalb eines gegensätzlich gestellten Grundverhältnisses”[UdC, 1935, S. 151].
An dieser Stelle verweist Guardini denn auch auf sein Gegensatzbuch: „Die Gegensätzlichkeit dieses Verhältnisses wird vielleicht dadurch bestimmt, ob das Ziel des religiösen Aktes "außer" oder "innert" der Welt gesetzt wird. Diese "Immanenz" aber und "Transzendenz" haben nur funktionellen Charakter. Sie bedeuten verschiedene Richtungen des weltverbundenen religiösen Aktes in bezug auf die Ebene dieser Welt; gegensätzliche Richtungswerte innerhalb jener Gesamtordnung, die durch "Mensch" und "Welt" gebildet ist. Das Gemeinte wird verständlicher, wenn wir ins Auge fassen, wie das lebendige Ich zu sich selbst steht. Ich kann mich selbst aus meiner Immanenz erfassen, von "innen" her, indem ich mich in mich versenke, und von innen her mich selbst durchgreife; oder aber aus meiner Transzendenz, von "außen" her indem ich mich über mich selbst erhebe, und so auf mich hinschaue. In beiden Fällen aber bildet, was "innen" und "außen" steht, was von innen und von außen geschaut wird, eine einzige Ordnung. Vgl. dazu R. Guardini, Der Gegensatz aaO. S. 73 ff.“[UdC, 1935, S. 151; (3)1994, Bd. 1, S. 171].
Das "in der Welt stehende Leben" beinhaltet diese "bloße Beziehungsstellungen und Teilbewegungen": "Damit verbleibt jene ganze Spannung zwischen dem Religiösen und Kulturhaften doch innerhalb derselben Gesamteinheit, der "Welt". So scharfe "Gegensätze" jene Haltungen untereinander bilden mögen, im Entscheidenden liegen sie auf der nämlichen Ebene. Religiöses wie Kulturelles sind Teilfaktoren eines großen Ganzen, der "Welt". Auf die Frage, ob die kulturellen Werte neben den religiösen - natürlich auch umgekehrt, der religiöse Wert neben dem kulturellen - in Betracht kommen, antworten beide Grenzhaltungen zunächst entgegengesetzt. Dieses Ja aber und dieses Nein sind nicht jenes Ja und Nein, zwischen denen ausschließend der Satz des Widerspruchs steht. Es sind, vom Ganzen des Lebensfeldes aus gesehen, trotz aller Energie doch keine absoluten Stellungnahmen, sondern nur relative. Von jenem Ja beziehungsweise Nein bedeutet im letzten eines nicht den Ausschluß, sondern die Antivalenz, den lebendigen Gegenwert des anderen. Und beide können ineinander umschlagen. Damit sind die Antworten auf jene Frage ihrer Grundqualität nach gleich, nämlich: Religiöses und Kulturelles sind teils gleichsinnig, teils gegensinnig stehende Kräfte innerhalb der nämlichen Ganzheit.“[UdC, 1935, S. 151 f.; UdC, (3)1994, Bd. 1, S. 171 f.].
Warum Alfons Knoll (Knoll, a.a.O., S. 240) den Satz “Religiöses und Kulturelles sind teils gleichsinnig, teils gegensinnig stehende Kräfte innerhalb der nämlichen Ganzheit” als Polarität mit nicht gleichrangigen Polen einschränkt und behauptet, aus dem Verweis auf die Gegensatzlehre dürfe nicht der Schluß gezogen werden, er wolle nun „Religion“ und „Kultur“ selbst als „Pole“ einer größeren Einheit bezeichnen, bleibt rätselhaft. „Religion“ ist für Guardini ja gerade kein einzelner „Pol“, der einem anderen „Pol“ etwa der „Kultur“ innerhalb eines größeren Ganzen, des menschlichen Lebens nämlich, gleichrangig gegenüberstünde. Sie bildet vielmehr selbst den Träger der geschilderten Beziehungsvielfalt.
Guardini fährt fort: „Die verschiedenen Stellungnahmen bedeuten Abwandlungen der nämlichen Grundposition. Diese Grundposition aber ist die in der Spannung gegensätzlich gestellter Kräfte sich tragende, konkrete Einheit des natürlichen Lebens: die Menschen-Welt. Ob das kulturelle Moment in das Religiöse, das Religiöse in das Kulturelle hineingetragen wird oder nicht; ob religiöse Kultur oder kulturelle Religion geschaffen wird oder nicht – darin offenbaren sich nur verschiedene Spannungsausgleiche innerhalb jener nämlichen Einheit“[UdC, 1935, S. 152; UdC, (3)1994, Bd. 1, S. 172].
Nun scheint aber die "christliche Religion" als Offenbarungsreligion noch einmal auf einer qualitativ anderen Ebene zu liegen und das Verhältnis zur Kultur anders zu bestimmen: “Der nach Europa kommende Asiate wundert sich, wie wenig das kulturelle Leben Europas vom Christentum geprägt sei. Das scheinbar eindeutige Kulturverhältnis des Christentums im Mittelalter enthüllt sich bei näherem Zusehen als vorübergehender, geschichtlicher Glücksfall ... Die christliche Kultur Russlands hat länger beharrt.” Doch die russische “Revolution hat mit furchtbarer Gewalt alles nachgeholt, was an Widerspruch unterblieben war. In der Neuzeit hat sich das Kulturelle immer mehr verselbständigt; und trotz aller Thesen und Programme über `christliche´ oder `katholische Kultur´ wird der Zweifel, ob diese Bedeutungsverbindung innerlich möglich sei, immer größer” [UdC, 1935, S. 153].
Für Guardini selbst gibt es aber keine „christliche Religion“, denn: “Das Verhältnis `Christentum und Kultur´ geht offenbar in dem oben entwickelten Verhältnis `Religion und Kultur´ nicht auf. ... Das Christentum ist nicht ein religiös-kultureller Typus oder eine historische Gestalt unter anderen. Alle Versuche, es so zu fassen, ebnen es ein.“ Während die altnordische Religion und die buddhistische Religion jeweils eindeutige Typen des Kulturverhaltens ausprägen, enthält das Christentum also das ganze Spektrum, zugleich aber ein gewisses „Mehr“, einen Bezugspunkt, der außerhalb der „Welt“ liegt [UdC, 1935, S. 154].
Dies liege in der besonderen Form der Offenbarung in der einmaligen, historischen Person Jesus Christus: „Der wirkliche Sohn Gottes tritt in die Geschichte ein. Und zwar nicht nur so, wie er als Schöpfer der Welt, sie tragend, `in´ ihr ist. Sondern in einer neuen, aus natürlicher Möglichkeit nicht ableitbaren Weise: als `Fleisch werdendes Wort Gottes´. Es ist `in der Welt´; aber nicht `von ihr´. Er steht in ihr als ein Neues, Anderes; erhebt aber den Anspruch, in ihr seines Vaters Reich aufzurichten, für sie religiös maßgebend zu sein“ [Ebd., S. 154 f.].
Christliche Weltanschauung bedeutet für Guardini, zur Welt in einem Verhältnis zu stehen, “wie Christus stand”; einen Standort zu haben, “in” ihr, aber nicht “von” ihr, also mit einer Wirklichkeit verbunden sein, “die der Welt gegenüber souverän ist” [UdC, 1935, S. 155].
Unter anderem gegen Karl Barth, der den Religionsbegriff nur auf das Christentum angewendet wissen wollte, aber auch gegen die Vertreter der “Christusmythe” gerichtet [Vertreter der "Christusmythe" meint hier wohl den Kreis um Arthur Drews (1865-1935): Die Christusmythe, Jena 1909 u.ö.], ergänzte Guardini: “Wir dürfen das `Religiöse´ und das `Christliche´ nicht verselbigen. Noch weniger dürfen wir religiöse Anlagen, angeborene oder entfaltete Fähigkeiten zum religiösen Akt, zum religiösen Erlebnis usf. mit dem Christlichen gleichsetzen” [UdC, 1935, S. 156, Anm. 10].
Religion und Christentum haben beide ihre Berechtigung, Religion beginnt nicht erst mit dem Christentum, das Christentum ist aber auch keine Religion unter anderen. Sowohl die christliche Weltverneinung als auch die christliche Weltbejahung haben eine andere Qualität als jene “innerweltlicher Religionen” [UdC, 1935, S. 157].
Der religiöse Akt ist also eine innerweltliche Wirklichkeit und steht daher im Reich der Polarität, Insofern es sich um einen christlichen Akt handelt besteht eine Analogie zwischen Offenbarung und „Natur-Kultur“. Religiöse Erfahrung und religiöser Akt gehören daher zu „natürlichen Gotteserkenntnis“. Von diesem Standpunkt aus erklärte Guardini dann zunächst das religiöse Verständnis von Analogie: “Zwischen Gott und dem Endlichen besteht die Ähnlichkeitsbeziehung der Analogie. Diese geht von Gott zum Geschöpf im Verhältnis der Selbstabbildung, durch Schöpfung und Wiedergeburt; vom Geschöpf zu Gott im Verhältnis der Rückkehr zum ersten Grunde, durch Erkenntnis, Liebe und Vollkommenheit. Die Inhalte der Beziehung gehen dabei durch den Übersetzungspunkt der Analogie hindurch. Darin liegt das nicht aufzulösende Geheimnis des Geschaffenen und seines Verhältnisses zu Gott”[UdC, 1935, S. 159].
Im offenbarungsreligiösen Verständnis kommt demnach hinzu: „Die in Geschichte eintretende Gotteswirklichkeit ist andersartig, unableitbar, neu, und in etwa immer unbekannt; sie ist übernatürlich; sie trägt Gnadencharakter. Zugleich ist aber das Natürliche ihr verwandt, wartet auf sie, steht empfänglich für sie. `Gratia supponit naturam et perficit´; die übernatürliche Wirklichkeit setzt die natürliche als Grundlage voraus und vollendet sie“ [UdC, 1935, S. 160].
Indem nun Kierkegaard und mit ihm weitgehend der Protestantismus das Moment der Analogie praktisch ausfallen lassen, bauen sie - so Guardini - “das Verhältnis zwischen Welt und Gott nur auf der Andersartigkeit oder nur auf der Verwandtschaft auf” [UdC, 1935, S. 160, Anm. 12].
Stattdessen gehöre es "zum tiefsten Wesen echter Religion, die relative Eigenständigkeit der natürlichen Seins- und Wertbereiche anzuerkennen; sie also nicht im direkten religiösen Verhältnis aufgehen zu lassen, und so alles zu direkter Religion zu machen. Das ist 'Integralismus', und seinem letzten Grunde nach unfromm - ganz abgesehen von den zerstörerischen Konsequenzen.” Dagegen bedeute ernsthaft-kritische Philosophie eben gerade auch “Dienst Gottes”: “Denn es heißt, ihn anerkennen und anbeten, wenn die Wesensgebiete seiner Schöpfung, hier der Sachprobleme und des Denkens, geachtet werden. Es ist immer eine schlechte, und im tiefsten ihrer selbst unsichere Gläubigkeit, hier vom direkt Religiösen der Gewalt zu üben. Alle Gewalt ist Furcht, auch in Dingen des Glaubens"[1926, S. 294f, Anm. 14; UdC, 1935, S. 160, Anm. 13].
Das christliche Verständnis von Analogie hebe daher auch das religiöse und offenbarungsreligiöse Verständnis nicht auf, sondern fasse es durch eine neue Qualität zusammen, da sich der Übersetzungspunkt der Analogie ändere. Im Blick auf Jesus Christus erhebe das “christliche Gewissen Einspruch”, sobald der Mensch sich in die Welt “zu verlieren droht”: “Im Namen dieses selben Gewissens aber lehnt der Christ auch jeden Versuch ab, vom Christlichen her die Welt als wesenhaft wertlos oder widerwertig zu erklären. Das wäre nicht mehr Christentum, sondern Dualismus, Gnosis, Buddhismus. Der zweite große Kampf der Kirche - der erste galt dem Nationalismus im religiösen Bereich, dem Judaismus - ging gegen diesen Feind: die dualistische Gesinnung der Gnostiker, Manichäer usw.”[UdC, 1935, S. 161].
Biblisch begründete Guardini diese neue Qualität im christlichen Weltverhältnis mit Joh 1,11: “Als der erlösende Gott in die Welt eintrat, kam er nicht in ein Unabhängig-Fremdes, sondern in `sein Eigentum´”[UdC, 1935, S. 161 f.].
Daher dürfe auch "das Wort Erlösung ... nicht für sich allein genommen werden”[1926, S. 296; UdC, 1935, S. 162], wie dies vor allem evangelische Theologen versucht hätten. Ihre „Hybris des 'reinen Christentums'“, ihr „Versuch, 'Evangelium' 'rein', als herausgelösten Grenzwert zu nehmen“ sei in dieser Hinsicht die evangelische „`Häresie´“. Doch dieser stehen immer auch die heidnische und die ekklesiale Häresie gegenüber, also „der Versuch, Schöpfung ohne Erlösung zu nehmen“ und der „Versuch, beide so zu harmonisieren, dass die Spannung zwischen ihnen verschwindet"[1926, S. 296, Anm., UdC, S. 162; Anm. 15 unter Berufung auf Ernst Michel].
wird noch ergänzt