Houston Stewart Chamberlain

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) war ein britischer Kulturhistoriker

Chamberlain und Guardini

  • Trotz der mehrfachen und in der Studienzeit beginnenden Bezüge auf Chamberlain und sein Werk, wurde diese bislang in der Guardini-Forschung nur wenig aufgegriffen. Bei Hanna-Barbara Gerl, Romano Guardini, 1905, wird die Lektüre des Werkes und sein Autor nicht erwähnt. Auch bei Berthold Gerners allerdings auf nach 1945 konzentrierten sozialbiographischen Studien fehlt der Name. In Italien wird durch Giuliano Riva (Romano Guardini e la katholische Weltanschauung, 1975, S. 37) ein möglicher Einfluss auf Guardini zumindest erwähnt.
  • Dies ist um so verwunderlicher als Guardini Chamberlain auch über die Studienzeit hinaus wahrnimmt:
    • Er zitiert aus Äußerungen über Chamberlain gegenüber Friedrich Heilers Methode: "Man möchte fast darauf anwenden, was einmal von H. St. Chamberlains Methode gesagt worden ist: "Was sie sagt, ist wahr, aber nichts ist in der Weise wahr, wie sie es sagt." (Wurzeln, Band II, S. 116, Quelle und Autor noch nicht gefunden). Vgl. dazu Hochland: "Guardini dürfte Recht behalten, wenn er auf Heiler das Wort anwendet : „Was er sagt, ist wahr, aber nichts ist in der Weise wahr, wie er es sagt (von Heiler selbst zitiert S. XII)." (Joseph Engert: “Metaphysik und Historismus im Christentum,” in: Hochland,21, 1923/24, S. 502–517 und 638–651, hier S. 639 - https://books.google.de/books?id=gz8vAAAAMAAJ). Heilers Zitat aus Guardini lautet: "Man möchte fast darauf anwenden, was einmal von H. St. Chamberlains Methode gesagt worden ist: Was sie sagt, ist wahr, aber nichts in der Weise wahr, wie sie es sagt." Guardini hat diesen Satz sinngemäß auch auf Karl Barth angewendet.
    • Er nennt ihn auch noch in den 1950er Jahren als Beispiel für einen der Wege europäischer Migration und Integration in den Lebensbereich eines anderen Volkes darstellt und somit indirekt mit seinem eigenen vergleicht: "Wenn ein Angehöriger eines europäischen Volkes in den Lebensbereich eines anderen geht, dann kann er es so tun, daß er dort sein Brot verdient, Ersparnisse macht, aber nur, um dann wieder in sein Land zurückzukehren; eine Beziehungsform, die unzähligemale verwirklicht worden ist und ihr gutes Recht hat. (Z.B. in großem Maße die Saisonarbeiter.) Er kann es aber auch so tun, daß er durch äußeres Schicksal, oder durch innere Sympathie hinübergeführt wird und sich in das neue Volk eingliedert - unter Umständen so tief, daß er die Werte dieses Volkes bewußter empfindet als jene, die unmittelbar mit ihm verbunden sind ... Ja daß er sie radikalisiert: H St Chamberlain." (Ethik, 1993, S. 552).

Biographie

Biographie bis 1905

  • Nach dem frühen Tod seiner Mutter wuchs der Sohn des britischen Generals William Charles Chamberlain von 1856 bis 1866 bei der Großmutter in Paris auf.
  • Nach dem Besuch einer englischen Privatschule und Privatunterricht bei einem deutschen Theologen unternahm Chamberlain zunächst zahlreiche Auslandsreisen, bevor er 1879 in Genf naturwissenschaftliche Studien aufnahm. In dieser Zeit wird er zum großen Bewunderer Richard Wagners, obgleich er ihn nie persönlich kennenlernen sollte.
  • Von 1884 bis 1889 hielt sich Chamberlain in Dresden auf. Dabei forschte er im Bereich der Botanik. Gleichzeitig beschäftigt er sich intensiv mit der deutschen Klassik und dem deutschen Idealismus.
  • 1889 siedelte er nach Wien über, betätigte sich dort als freier Schriftsteller und veröffentlichte unter anderem seine zweibändige Monographie zu Richard Wagner.
  • 1899 erschienen die besagten zwei kulturhistorischen Bände über „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war sie das meistverkaufte Werk dieser Art im deutschen Sprachgebiet.
  • Zu Chamberlains größten Bewunderern gehörte Kaiser Wilhelm II., der bei Hof Exemplare dieses Buchs verteilte und der Chamberlain ab Oktober 1901 wiederholt trifft (am ersten Treffen hatte auch Adolf von Harnack teilgenommen) und im Briefwechsel mit ihm steht (Der Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II. wird posthum bereits 1928 publiziert; auch Harnack stand im Briefwechsel mit Chamberlain; siehe: Wolfram Kinzig: Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer Edition des Briefwechsels zwischen Adolf von Harnack und Houston Stewart Chamberlain, Leipzig 2004).
  • Bereits 1903 hatte er unter dem Titel „Dilettantismus, Rasse, Monotheismus, Rom“ (München, 1903) über das Thema der Rasse geschrieben.

Biographie nach 1905

  • Von Cosma Wagner in Bayreuth eingeführt, heiratete er 1908 (1909?) Richard Wagners Tochter Eva von Bülow und lebte seither in Bayreuth im Kreise der Wagner-Familie.
  • Mit Beginn des Ersten Weltkriegs richtete er sich chauvinistisch vor allem gegen sein Mutterland England, dessen Kriegseintritt er als Verrat an der gemeinsamen Rasse charakterisiert.
  • Er nahm 1916 die deutsche Staatsbürgerschaft an und veröffentlichte seine rassistische Schrift „Arische Weltanschauung“, 1918 gefolgt von „Rasse und Nation“ und 1925 von „Rasse und Persönlichkeit“.
  • 1922 erschien sein autobiographisches Werk „Lebenswege meines Denkens“. Bezüglich der Wechselwirkung der Rassenlehre, siehe David Clay Large: Ein Spiegelbild des Meisters? Die Rassenlehre von Houston Stewart Chamberlain, in: Dieter Borchmeyer/Ami Maayani/Susanne Vill (Hrsg.): Richard Wagner und die Juden. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2000, S. 144-159.
  • Adolf Hitler war Bewunderer seiner Werke und traf sich Ende September 1923 erstmals mit Chamberlain in Bayreuth. Nach der Begegnung rühmte Chamberlain den nationalsozialistischen Politiker und hielt ihn für den Erlöser.
  • Chamberlain starb am 9. Januar 1927, vier Jahre nach der Bekanntschaft mit Hitler. Er ging „mit der Hoffnung ins Grab, dass alles, was er gepredigt und prophezeit hatte, unter der göttlichen Führung des neuen deutschen Messias dennoch Wahrheit werden würde.“ (Mosse 1990, S. 130; Wilhelm L. Shirer: Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Stuttgart 1963, S. 107.). Chamberlain gilt daher nicht wenigen als eine Art satanischer „Simeon“ mit einem perversen „Nunc dimittis“ (Vgl. Eric Metaxas: Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Holzgerlingen 2011, S. 211).

"Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" und "Immanuel Kant"

  • In den „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ schilderte Chamberlain die abendländische Geschichte als einen Kampf der Rassen. Er beschrieb dabei - als Weiterentwicklung von Gobineaus rassistischem Weltbild - die „Arier” als die einzige kultur-schöpferische Rasse, die nach den vielen "Vermischungen mit Juden" ihre "Reinheit" unbedingt wiedererlangen müsse. Er setzte die Rasse als Lebensfrage, sah die Juden als Vampir am Leibe der Menschheit und die Germanen als Spitze der Arier an. Die "Arier", und vor allem die Deutschen hätten die christliche Kultur gegenüber den Einflüssen des Judentums aufrechterhalten und wären jetzt dazu berufen, die westliche Kultur überhaupt zu retten. Die Juden erscheinen so als die Antithese zu den "Ariern", die besiegt werden müssten. Der „Kampf der Rassen” wird als apokalyptischen Phantasie und Imagination gestaltet. Kritisiert werden auch die freisinnigen Parteien, die sich aus liberaler Überzeugung für die Gleichstellung der Juden einsetzten und somit zur "Juden-Schutztruppe" würden.
  • Schon in den „Grundlagen des 19. Jahrhunderts” führte die Berufung auf Kant über Nietzsche direkt in den arischen und nationalsozialistischen Finitismus. Chamberlain schrieb, erst Kant habe „das Truggebäude der römischen Theologie endgültig zertrümmert, er `der Alleszermalmer´, wie ihn Moses Mendelssohn treffend nennt” (Chamberlain, Grundlagen, S. 871). Er stilisierte Kant zu einem zweiten „Johannes, `der vor dem Herrn hergeht und seinen Weg bereitet´. Dahin — zu einem geläuterten Christentum — drängte die neue germanische Weltanschauung alle größten Geister am Schlusse des 18. Jahrhunderts” (Chamberlain, Grundlagen, S. 943f.). Außerdem sei Kant „der wahre Fortsetzer Luther‘s; was dieser begonnen, hat Kant weiter ausgebaut” (Chamberlain, Grundlagen, S. 946). Im Kapitel „Völkerchaos” zitierte er einleitend Kants Wahrscheinlichkeitsurteil, „dass die Vermischung der Stämme, welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschengeschlecht, alles vorgeblichen Philanthropismus ungeachtet, nicht zuträglich sei” (Chamberlain, Grundlagen, S. 308).
  • Chamberlain deutet sich selbst als Nachfolger Kants (vgl. dazu schon Hans Vaihinger: Houston Stewart Chamberlain – ein Jünger Kants, in: Kant-Studien 7, 1902, 432–439).
  • Diese Andeutungen in den "Grundlagen" führte Chamberlain in seiner 1905 veröffentlichten Kant-Studie dann noch konkreter aus (Chamberlain, Immanuel Kant. München, 1905 u.ö.).
  • Für beide Werke gilt, was der Philosoph und Pädagoge August Messer, der schon 1905 im Zuge des Modernismus-Streites aus der römisch-katholische Kirche ausgetreten war, in seiner Besprechung im katholischen „Hochland“ von 1906/07 zu „Chamberlains Kant“ geschrieben und Guardini durchaus gelesen haben könnte: „KRITIK an KANT wird nicht geübt; Kant hat immer recht. Und dass dies noch nicht allgemein anerkannt ist, das beruht nach Chamberlain hauptsächlich da-rauf, dass seine bisherigen Interpreten zu der bornierten Zunft der Fachphilosophen gehört haben. … VIELLEICHT HAT ER KANT GAR NICHT RECHT VERSTANDEN. Dieser Verdacht aber wird zur Gewissheit, wenn man im Einzelnen prüft, wie er sich über einige der grundlegenden Begriffe Kants (z.B. transzendental, a priori, Idee usw.) auslässt“ (August Messer: Chamberlains Kant, in: Hochland, 4, 1906/07, Bd. 1, H. 6, S. 752-754).

"Die arische Weltanschauung" und "Rasse und Persönlichkeit"

  • Die Nachfolgewerke „Die arische Weltanschauung” (1916) und „Rasse und Persönlichkeit” (1925) schließlich beeinflussten Hitler und seine Ideologen unmittelbar (Vgl. Alfred Rosenberg: Houston Stewart Chamberlain als Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft. München 1927).
  • Juden bzw. Nicht-Arier und Deutsche bzw. Arier werden darin von Chamberlain immer stärker als Paradigma sich ausschließender Gegensätze vorgestellt.
  • Chamberlain versteht sich auch in diesen Werken ausdrücklich als einer, der mit seinen Theorien die Kantische Dialektik zur Vollendung bringt.

Chamberlains Dante-Kritik

Dante in Chamberlains Werken

  • Chamberlain warf Dante nämlich vor: “Wie konnte ein Mann von Dante‘s Geistesschärfe sich als orthodoxer römischer Katholik betrachten und dennoch die Scheidung der weltlichen und der geistlichen Gewalt, sowie die Unterordnung dieser unter jene verlangen? Rom IST ja gerade der Erbe der höchsten weltlichen Gewalt; nur als seine mandatarii führen die Fürsten das Schwert, und Bonifaz VIII. erstaunte die Welt nur durch seine Unumwundenheit, nicht durch die Neuheit seines Standpunktes, als er ausrief: ego sum Caesar! ego sum Imperator! Sobald Rom diesen Anspruch aufgäbe (und sei er den tatsächlichen Verhältnissen gegenüber noch so theoretisch), so hätte es sich den Todesstoß versetzt. Man vergesse nie, dass die Kirche ihre ganze Autorität aus der Annahme schöpft, sie sei die Vertreterin Gottes... " Dante sei in Bezug auf seine Anschauungen über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche „ganz und gar in karlinisch-ottonischen Anschauungen und Träumereien befangen und bleibt eigentümlich blind für die große politische Umwälzung Europa‘s, die um ihn herum so stürmisch sich ankündet" (Chamberlain, Grundlagen, S. 620 f./738 f.). Er stehe damit am Ende dieser Epoche. Da „Katholische Reformation” eine „contradictio in adjecto“ sei, konnten seine weitgreifenden Reformideen auf die Kirche „nicht den geringsten Einfluss” ausüben, „weder im Leben noch im Tode”. Gerade weil er, wie sein „neuester und verdienter römisch-katholischer Biograph” Franz-Xaver Kraus ihn rühme, „nicht nach Art der Häresie eine Reform GEGEN die Kirche, sondern DURCH die Kirche ins Auge gefasst” hatte (unter Verweis auf Kraus, Dante, 1897, S. 736), sei er mit seiner Kritik am Papst, an der römischen Priesterschaft und am Ablasswesen gescheitert. „Dante‘s Ansichten über das rein geistige, der weltlichen Macht untergeordnete Amt der Kirche” seien „durch die Absätze 75 und 76 des Syllabus vom Jahre 1864 einem zweifachen Anathema verfallen.“ Chamberlain sieht in Dante daher auch einen, der „er zu der gefährlichsten Klasse der echten Protestler gehörte” und unterstellt den Verteidigern „eine lendenlahme, einsichtslose Orthodoxie, welche Dante heute weißzuwaschen sucht.“ Dante sei weiter gegangen als Karl der Große mit seiner cäsaropapistischen Idee, dass der Kaiser „die doppelte Gewalt besitzen sollte, im Gegensatz zur Papocäsarie, die der römische pontifex rnaximus erstrebte.” Während also Karl der Große „wenigstens innerhalb des echten römischen Weltherrschaftsgedankens” geblieben sei, habe Dante „die gänzliche Trennung von Kirche und Staat” gefordert. „Dante schilt Konstantin die Ursache alles Übels, weil er den Kirchenstaat gegründet habe... weil er die Kirche auf Irrwege geleitet, sodann weil er sein eigenes Reich geschwächt habe. Im 55. Vers des 20. Gesanges des Paradiso sagt er, Konstantin habe, indem er der Kirche Macht verlieh, `die Welt vernichtet´.” Dante vertrete damit „eine durchaus heidnisch-historische Lehre“: „Die Vorstellung, dass die Weltherrschaft das rechtmäßige Erbe des römischen Reiches sei!... Wie ist es möglich, so nahe an der Grundidee von Rom‘s Kirchenmacht vorbeizustreifen und sie doch nicht zu fassen? Denn gerade die Kirche ist ja die Erbin jener Weltmacht. Durch ihre Besitzergreifung entstand erst die civitas Dei. Schon längst hatte Augustinus mit einer Gewalt der Logik, die man Dante und seinen Apologeten wünschen möchte, dargetan, die Macht des Staates beruhe auf der Macht der Sünde; nunmehr, da durch Christi Tod die Macht der Sünde gebrochen sei, habe der Staat sich der Kirche zu unterwerfen, mit anderen Worten, die Kirche stehe fortan an der Spitze des staatlichen Regimentes. Der Papst ist nach der orthodoxen Lehre der Vertreter Gottes, vicarius Dei in terris...; wäre er bloß der „Vertreter Christi“ oder der „Nachfolger Petri“, so ließe sich allenfalls das Amt als ein ausschließlich seelsorgerisches auffassen, denn Christus sprach: Mein Reich ist NICHT von dieser Welt; doch wer sollte sich über den Vertreter der allmächtigen Gottheit auf Erden irgend eine Autorität anmaßen? Wer dürfte leugnen, dass das Zeitliche Gott ebenso untersteht, wie das Ewige? Wer es wagen, ihm in irgend einer Beziehung die Suprematie zu verweigern?... Durch die Reformation erstarkte später die katholische Kirche; denn durch sie schieden unassimilierbare Elemente aus ihrer Mitte aus, die ihr in der Gestalt unterwürfiger und dennoch aufrührerischer Söhne — nach Art Karl‘s des Großen und Dante‘s — weit mehr Gefahr brachten, als wären sie Feinde gewesen, Elemente, welche innerlich die logische Entwicklung des römischen Ideals hemmten und äußerlich sie wenig oder gar nicht fördern konnten. Ein Karl der Große mit einem Dante als Reichskanzler hätte die römische Kirche in den Grund gebohrt; ein Luther dagegen klärt sie dermaßen über sich selbst auf, dass das Konzil von Trient den Morgen eines neuen Tages für sie bedeutet hat.”
  • Chamberlain äußerte sich schließlich in Bezug auf Dante auch noch über die „Theorie der duplex potestas, der zweiköpfigen Gewalt“: „Den meisten Gebildeten ist sie hauptsächlich aus Dante‘s De Monarchia bekannt, wenngleich sie früher und gleichzeitig und auch später von Anderen vorgetragen wurde. Bei aller Verehrung für den gewaltigen Dichter glaube ich kaum, dass ein politisch urteilsfähiger und nicht von Parteileidenschaft geblendeter Mensch diese Schrift aufmerksam lesen kann, ohne sie einfach ungeheuerlich zu finden. Großartig wirkt allerdings die Konsequenz und der Mut, womit Dante dem Papste jede Spur von weltlicher Gewalt und weltlichem Besitz abspricht; doch, indem er die Fülle dieser Gewalt einem Anderen überträgt, indem er der Macht dieses Anderen die rein theokratische Quelle unmittelbar göttlicher Einsetzung vindiziert, hat er nur einen Tyrannen an die Stelle eines Anderen gesetzt. Von den Kurfürsten meint er, man dürfe sie nicht „Wähler“ nennen, sondern vielmehr „Verkündiger der göttlichen Vorsehung“ (III, 16); das ist ja die ungeschminkte papale Theorie! Dann aber kommt erst die Ungeheuerlichkeit: neben diesem unumschränkten, von Gott selbst „ohne irgend einen Vermittler“ eingesetzten Alleinherrscher gibt es noch einen, ebenfalls von Gott selbst eingesetzten, ebenfalls unumschränkten Alleinherrscher, den Papst! Denn „des Menschen Natur ist eine doppelte und bedarf darum einer doppelten Leitung“, nämlich „des Papstes, der in Gemäßheit der Offenbarung das Menschengeschlecht zum ewigen Leben führt, und des Kaisers, der im Anschluss an die Lehren der Philosophen die Menschen zur irdischen Glückseligkeit leiten soll“. Schon philosophisch ist dieser Gedanke eine Ungeheuerlichkeit; denn nach ihm soll das Streben nach einem diesseitigen, rein irdischen Glück Hand in Hand mit der Erlangung eines jenseitigen ewigen Glückes gehen; praktisch bedeutet er die unhaltbarste Wahnvorstellung, die jemals ein Dichterhirn ausbrütete. Wir dürfen als ursätzliche Wahrheit annehmen, dass Universalismus Absolutismus mit sich führt, d. h. Unbedingtheit; wie könnten denn ZWEI unbedingte Herrscher nebeneinander stehen? Nicht einen Schritt kann der Eine machen, ohne den Anderen zu „bedingen“. Wo soll man eine Grenze zwischen der Jurisdiktion des „philosophischen“ Kaisers, des unmittelbaren Vertreters Gottes als Weltweisen, und der Jurisdiktion des theologischen Kaisers, des Vermittlers des ewigen Lebens ziehen? Bildet jene „Doppelnatur“ des Menschen, von der Dante viel spricht, nicht dennoch eine Einheit? Vermag sie es, sich fein säuberlich in zwei zu teilen und — im Widerspruch mit dem Worte Christi — zwei Herren zu dienen? Schon das Wort MONARCHIE bedeutet die Regierung durch einen Einzigen, und jetzt soll die Monarchie zwei Alleinherrscher besitzen? Die Praxis kennt eine derartige zwiespältige Idee gar nicht“ (Vgl. dazu den freidenkerischen Versuch Chamberlains, die „Worte Christi” zu destillieren. Houston Stewart Chamberlain: Worte Christi. München, 1902 (1903?); dazu: Herman Schell: Worte Christi. Das Charakterbild Jesu nach Houston Stewart Chamberlain, in: Hochland, 2, 1904/05, H. 7 (April 1905), S. 1-11; eigenständig: Worte Christi. Kempten u.a. 1905; auch in: ders.: Kleinere Schriften, hrsg. Von Karl Hennemann, Paderborn 1908, S. 624-638. Schell verfolgt damit den Zweck, „den inneren Zusammenhang aufzuweisen, der die Worte Christi in Chamberlains Auswahl zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschließt. Indem sich so das Christusbild eines modernen Freidenkers lebensvoll vor dem geistigen Auge entfaltet, ist dem bekenntnistreuen Christen die Möglichkeit geboten, das Christusbild des Glaubens mit dem des modernen Christussuchers zu vergleichen“ (Hochland, S. 11; Kleinere Schriften, S. 637f.).
  • Aufgrund endloser politischer Wirren sei es damals zu manch unklaren Ideen gekommen. Dazu zählte Chamberlain auch jenen „Satz des alten Kirchenrechtes von den BEIDEN SCHWERTERN des Staates, de duobus universis monarchiae gladiis; doch hat, wie obiger Satz mit seinem Genitiv der Einzahl beweist, der praktische Politiker sich die Sache nie so ungeheuerlich vorgestellt wie der Dichter; für ihn gab es doch nur EINE Monarchie, und ihr dienen BEIDE Schwerter. Diese eine Monarchie ist die Kirche: ein weltliches und zugleich überweltliches Imperium. Und weil die Idee dieses Imperiums eine so durch und durch theokratische ist, kann es uns nicht wundern, wenn die höchste Gewalt allmählich vom König auf den pontifex übergeht. Dass beide gleich hoch stehen sollten, ist durch die Natur des Menschen völlig ausgeschlossen; selbst Dante sagt am Schlusse seiner Schrift, der Kaiser solle „dem Petrus Ehrerbietung bezeigen“ und sich von dessen Licht `bestrahlen lassen´; er gibt also implicite zu, der Papst stehe über dem Kaiser. Endlich hellte ein starker, klarer Geist, politisch und juristisch hochgebildet, diese Wirrnis geschichtlicher Trugschlüsse und abstrakter Hirngespinste auf" (Chamberlain, Grundlagen, S. 713/850).
  • Abschließend kam Chamberlain dann zu einem geradezu vernichtenden Urteil über Dante: “Man denke doch, in welcher machtvollen Unabhängigkeit ein Dante vor uns stünde, wenn er seine Hölle nicht bei Virgil erborgt und seine Staatsideale nicht aus konstantinopolitanischem Afterrecht und der Civitas Dei des Augustinus zusammengeschweißt hätte! Und warum wurde diese Berührung mit den vergangenen Kulturen, welche ungeteilten Segen hätte bringen sollen, vielfach zum Fluch? Das geschah lediglich, weil wir die INDIVIDUALITÄT einer jeden Kulturerscheinung nicht begriffen - heute noch, den Göttern sei es geklagt! nicht begreifen.”
  • Außer Dante, Vergil und Augustinus traf letztlich auch noch Aristoteles das Verdikt Chamberlains. Bei Dante handle es sich nämlich um „ein aristotelisches, aus lauter abstraktem Spinngewebe errichtetes Vernunftgerüst..., in dessen Credo die einzige sichere Grundlage aller uns Germanen in Wahrheit möglichen Religion — die Erfahrung — vollständig fehlt und der Name Christi konsequenterweise gar nicht einmal genannt wird" (Chamberlain, Grundlagen, S. 952/1135).
  • Vgl. dazu schon: Hermann von Grauert: Dante und Houston Stewart Chamberlain. Freiburg im Breisgau, 1904.

Zeitgenössische Kritik an Chamberlains Dante-Bild

  • Der reformkatholische Kirchenhistoriker Albert Ehrhard nahm in seinem 1901 publizierten, in Wien bei der akademischen „Leo-Gesellschaft“ gehaltenen Vortrag „H. Stewart Chamberlain´s `Grundlagen des 19. Jahrhunderts´“ (Albert Ehrhard: H. Stewart Chamberlain´s `Grundlagen des 19. Jahrhunderts´, Wien 1901 (Vorträge und Abhandlungen der Österreichischen Leo-Gesellschaft; 14) und 1902 in seiner Studie „Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit“ (Stuttgart 1902) ausdrücklich gegen Chamberlains Werk Stellung. Erhard wandte sich dort sowohl gegen eine Mittelalterverherrlichung, versuchte sowohl das Mittelalter als auch die Neuzeit differenziert darzustellen und auch die Kultur schaffende Bedeutung des Katholizismus ins rechte Licht zu rücken (Christopher Dowe: Die Krise der anderen und die eigene Chance, in: Michel Grunewald/Uwe Pusch-ner (Hrsg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900, Bern u.a. 2010, S. 121).
  • Auch der Münchner Bruckmann Verlag gab 1901 „Kritische Urteile“ zu „Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts“ heraus (Chamberlain Houston Stewart, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. Kritische Urteile, München 1901; (2., vermehrte)1902; (3)1909). Es handelte sich um eine Zusammenfassung mehrerer Rezensionen, so unter anderem von Oscar Bulle, Hans F. Helmolt, Albert Ehrhard, Wolfgang Golther, Arthur Drews, Ferdinand Hueppe (irrtümlich als „H. Hueppe“ wiedergegeben), Max Koch, Richard Batka, Gustav Schönaich, Karl Joel, Karl Krumbacher, Gustav Krüger, Ernst Storch und Ernst Freiherr von Wolzogen.
  • Der mehrfach von Chamberlain angeführte und mit Dante selbst verworfene Freiburger katholische Kirchenhistoriker und Archäologen Franz Xaver Kraus (1840-1901) war 1897 einer der ersten, die Dantes Verhältnis zur Politik herausgearbeitet hatten. Tatsächlich stand seine Dante-Interpretation der von Chamberlain diametral entgegen und lohnt hier als Kontrast dargestellt zu werden. Ob Guardini eine der Dante-Arbeiten des zu diesem Zeitpunkt schon verstorbenen Franz Xaver Kraus schon kannte, bevor er 1905 die „Grundlagen des 19. Jahrhunderts” von Houston Stewart Chamberlain las, ist eher unwahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich (Vgl. Franz-Xaver Kraus: Dante: sein Leben und sein Werk; sein Verhältnis zur Kunst und zur Politik, Berlin 1897).
  • Die Auseinandersetzung der katholischen „Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts” (hrsg. Von dem Erzbischöflichen Generalvikariat Köln, verbesserter Neudruck 1934) mit Rosenbergs Pamphlet, zeigt den großen Einfluss auf den Nationalsozialisten und die Schwierigkeiten, den Fehldeutungen standzuhalten. Denn obwohl Rosenberg selbst Dante als „großen nordischen Italiener“ mit „germanisch bedingtem“ Schönheitsideal sieht, schließt er sich nun größtenteils im Mythus des XX. Jahrhunderts Chamberlains Deutung an (Rosenberg, Alfred: a.a.O., S. 295f. Ausdrücklich verweist er auf die „germanische Abstammung“ Dantes (S. 70, FN), dessen „germanischer Geist“ allerdings durch die „jahrtausendealte Dämonie“ des „altetruskisch-vorderasiatischen Satanismus, verbunden mit Christentum“ umschlungen sei (S. 69f.)). Bereits 1927 hatte Alfred Rosenberg aber „Houston Stewart Chamberlain als Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft“ (München 1927) stilisiert. In der Kritik an Rosenberg hieß es daher aber zu Recht: “Endlich zu R.s Angaben bez. der neuesten Geschichte der Kirche. DANTE ist keineswegs i.J. 1864 verdammt worden." Tatsächlich war seine Schrift „De Monarchia“ vom Kardinallegaten Betrand de Pouget (1289-1352) wahrscheinlich im Jahr 1329 verurteilt worden, weil Anhänger des Kaisers das Buch im Kampf gegen den Papst benutzt hätten. 1335 wurde allen Dominikanern die Lektüre Dantes verboten. Im Rahmen der protestantischen Dante-Rezeption wurde „De Monarchia“ 1557 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. 1882 wurde die Schrift jedoch wieder aus dem Index gestrichen. Daher führen die Kritiker weiter aus: "Im Gegenteil ist er von den Päpsten trotz seiner scharfen Sprache gegen Bonifaz VIII. und gegen Missbräuche, die er an einzelnen Stellen seiner Divina Commedia der Kurie vorhält, hoch geehrt worden. Leo XIII. hat eine eigene Professur für Dantestudien in Rom errichtet. Wie R. zu seinem Irrtum gekommen ist, wird einem sofort klar, wenn man bei Chamberlain, Grundlagen II, S. 621, liest, dass die von Dante in seiner Schrift `De Monarchia´ vertretenen Grundsätze über das Verhältnis von Staat und Kirche durch die Sätze 75 und 76 des Syllabus Pius´ IX. v. J. 1864 getroffen seien oder, wie sich Chamberlain für R. missverständlich ausgedrückt hat, `einem zweifachen Anathema verfallen sind´. R. hat das wohl allzu eilig gelesen und den Syllabus, der mit Dante natürlich überhaupt nichts zu tun hat, zu einer ausdrücklichen Verdammung Dantes gemacht und aus seinen Erinnerungen dann das von der Kloake hinzugesetzt” (Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts, a.a.O., S. 78 in Bezug auf Alfred Rosenberg: Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltkämpfe unserer Zeit, München (10)1943, S. 196).
  • Auch Karl Muth hatte 1903 im Hochland ausdrücklich die Position von Hermann Grauert gegen Chamberlain eingenommen: „War Dante christusgläubig? Aber eine solche Frage! Nein, das ist ja lächerlich. Ist aber der Frager einer von den aufsässigen Denkern, die hinter allen Dingen und Erscheinungen die Gründe suchen, so wird er auch hier weiterforschen und sich nicht mit dem Hinweis auf Dantes Ruf und Ruhm als eines der größten religiösen Dichter des katholischen Mittelalters zufrieden geben; er wird sich dann allerdings davon überzeugen, dass die große Mehrzahl derer, die seine Frage sachlich mit Recht, aber persönlich wegen ihrer sachlichen Unwissenheit mit Unrecht in Erstaunen versetzt hat, von Dante nicht viel mehr kennt als den Namen. Und damit ist klar, was geschieht, wenn der Erreger dieses Seelenzwiespaltes die Frage verneint und – Houston Stewart Chamberlain heißt: auf eine solche Autorität hin schweigt das ohnehin mit Selbstvertrauen kärglich versehene Urteil, und es gilt bei der breiten Masse der Halbgebildeten fortan der pikante Satz: Dante war nicht christusgläubig. Darum ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu ein Verdienst, dass der bekannte Münchener Historiker Prof. Hermann Grauert in seiner jetzt in zweiter, vermehrter Auflage erschienenen Schrift: „Dante und Houston Stewart Chamberlain“ u.a. diese Behauptung des von ihm selbst hochgeschätzten Verfassers der „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ einer Nachprüfung unterzieht. Das Resultat ist nur für den befremdlich, der die Eigenart dieses Werkes nicht kennt; denn seine Bedeutung besteht in der geistvollen, konsequent von einem großen Gesichtspunkt geleiteten historischen Betrachtung, nicht aber in wissenschaftlicher Zuverlässigkeit. Seiner ganzen Art nach gilt Dante dem Chamberlain als Germane; nur das germanischer Erleben des Christentums vermisst er bei ihm und findet es so natürlich, dass `der Name Christi konsequenterweise gar nicht einmal genannt wird´ (Grdlgn. II, 952). Prof. Grauert hebt nun nicht nur hervor, dass der Name Christi in der göttlichen Komödie 43mal, in der Monarchia 53mal und im Convivio und der Vita nuova öfter genannt wird, sondern dass auch die Idee des Gottmenschen unzweifelhaft klar im tiefsten Gehalte und Geist der Dichtung liegt. Dass gerade im sogenannten Credo im 24. Gesang des Paradiso das Wort Christus nicht vorkommt, hat nicht die geringste Bedeutung neben den darin enthaltenen Versen: `Dann glaub´ ich an drei ewige Personen in einer Wesenheit so eng vereint, dass Drei in Einem hier im Himmel thronen!´” (Karl Muth: War Dante christusgläubig?, 1, 1903/04, 1, S. 639 f.).

Chamberlains Renaissance-Kritik

  • Im Blick auf Guardinis erste Aufsatzveröffentlichung im Jahr 1911 ist auch noch Chamberlains radikale Ablehnung der „Renaissance” zugunsten der romanisch-römischen Klassik von Interesse. Chamberlain sah allein schon im Begriff „Renaissance” eine verderbliche Sache und sprach daher immer nur von der „angeblichen” Renaissance: “Denn hiermit verband man den Wahn einer Wiedergeburt lateinischer und griechischer Kultur, ein Gedanke, würdig der Mestizenseelen des entarteten Südeuropa, denen „Kultur“ etwas war, was der Mensch sich äußerlich aneignen kann. Zu einer Wiedergeburt hellenischer Kultur würde nichts weniger gehören als die Wiedergeburt der Hellenen; alles Andere ist Mummenschanz. Nicht allein der Begriff der Renaissance war verderblich, sondern zum sehr großen Teil auch die Taten, die aus dieser Auffassung entsprangen. Denn anstatt bloß Anregung zu empfangen, empfingen wir nunmehr Gesetze, Gesetze, welche unserer Eigenart Fesseln anlegten, welche sie auf Schritt und Tritt hemmten und uns den kostbarsten Besitz, die Originalität — d. h. die Wahrhaftigkeit der eigenen Natur — zu schmälern bestrebt waren. Auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens ward das als klassisches Dogma verkündete römische Recht die Quelle unerhörter Gewalttätigkeit und Freiheitsentziehung; nicht etwa, als sei dieses Recht nicht auch heute noch ein Muster juristischer Technik, die ewige hohe Schule der Jurisprudenz; dass es aber uns Germanen als ein Dogma aufgezwungen wurde, war offenbar ein schweres Unglück für unsere geschichtliche Entwicklung; denn es passte nicht für unsere Verhältnisse; es war ein Totes, Missverstandenes, ein Organismus, dessen frühere lebendige Bedeutung erst nach Jahrhunderten, erst in unseren Tagen, durch die genaueste Erforschung römischer Geschichte aufgedeckt wurde: ehe wir das Gebilde seines Geistes wirklich begreifen konnten, mussten wir den Römer selber aus dem Grabe hervorrufen. So ging es auf allen Gebieten. Nicht allein in der Philosophie sollten wir „Mägde“ (ancillae), nämlich die des Aristoteles, sein, sondern in unser ganzes Denken und Schaffen wurde das Gesetz der Sklaverei eingeführt.”
  • Für Chamberlain stand fest, dass “nur das bewusste, freie Individuum … sich zum Verständnis der Unvergleichlichkeit anderer Individualitäten“ erhebe: „Der Stümper glaubt, Jeder könne Alles; er begreift nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieser elend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke einer Anknüpfung an Griechenland und Rom, einer Fortsetzung ihres Werkes entsprungen, worin sich — das merke man wohl — eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener großen Völker zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen Kraft und Eigentümlichkeit ausspricht.”

Spätere Kritik und Würdigung Chamberlains im Kontext Guardinis

Georg Gauß als Kritiker Chamberlains (1916)

  • Guardini selbst nahm bereits in einem Brief an Weiger vom 20. Juli 1916 zur Auseinandersetzung um Houston Stewart Chamberlain Stellung: “Hier lege ich Dir einen interessanten kleinen Kampfartikel der `Frkf. Ztg.´ bei. Ch. ist hier der Vertreter des idealistischen Werturteils. Die Kampfesart der `Frkf. Ztg.´ ist ja alles andere als nobel, aber Ch. hat es herausgefordert. Und, weißt Du, es ist doch gut, dass die Leute seines Schlages nicht allein regieren, sonst gäb’ es eine Götter- und Menschendämmerung. Ich sehe ihn immer klarer, diesen germanischen Zug ins Maßlos-Ungeheure, Kosmische, dieses Gehen-aufs-Ganze, aus einem seelisch-metaphysischen Drang heraus, der gar nicht fragt, obs denn auch im Wirklichen gelingen und sich schicken wird. Und immer besser verstehe ich die Bedeutung südlicher Form! Nicht umsonst hat Raabe, der jenen Trieb mit dämonischer Kraft in sich trug, Goethe den `weisesten Deutschen´ genannt. Und ich denke, es ist eine Aufgabe, die sich lohnt, in liebendem Verstehen dieses Dranges und Bedürfens das Element der Form hineinzutragen.” (63. Brief vom 20. Juli 1916, Mainz, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 185f.)
  • Aller Wahrscheinlichkeit nach ist hier der Artikel von Dr. Georg Gauß gegen Chamberlain gemeint. Chamberlain schrieb nämlich am 22. Juli 1916 an Gauß: “Sehr geehrter Herr! Haben Sie Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Von verschiedenen Seiten werde ich auf den betreffenden Aufsatz (in der „Frankfurter Zeitung“) aufmerksam gemacht, ich kenne ihn aber nicht und brauche ihn auch nicht zu kennen. Die Feindschaft zwischen uns ist eine alte, jedes meiner Bücher haben sie verrissen. Kürzlich kam noch dazu, dass sie einen gegen Nachdruck geschützten Aufsatz von mir stahlen, was meinen Rechtsfreund veranlasste, ihnen 500 Mark zugunsten des Roten Kreuzes abzuzapfen. Mit nochmaligem Dank und Gruß. Ihr sehr ergebener H. S. Chamberlain” (Houston Stewart Chamberlain: Briefe 1882-1924 und Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, München 1928).

Friedrich Wilhelm Foerster als Kritiker Chamberlains (ab 1916)

  • Der von Guardini von Jugend an bewunderte Pädagoge und Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster nahm in einer anderen Sache deutlich gegen Houston Stewart Chamberlain Stellung, nämlich zu dessen einseitiger Beleuchtung Englands: „Es ist meine Überzeugung, dass in dieser gewaltigen Krisis kaum eine schlimmere Verleitung für die Seele unseres deutschen Volkes gefunden werden konnte, als die `Kriegsaufsätze´ H. St. Chamberlains. Es ist, als habe England uns unter der Maske des unbedingten Lobredners einen Versucher gesandt, um unsere Selbstschätzung so planmäßig und so raffiniert zu erhitzen und uns gegen das, was wir vom Westen Gutes zu lernen haben, so blind zu machen, dass wir dadurch schweren Schaden erleiden. Das Gefährliche in all den geistreichen Kombinationen Chamberlains besteht gerade darin, dass er fast nie Unwahrheiten, aber fast immer Halbwahrheiten sagt und dass er selbst richtige Beobachtungen so formuliert, gruppiert und interpretiert, dass sie zu falschen Zeugnissen werden. Er leitet den Leser mit einer unwiderstehlichen Art von frappierender, künstlicher Beleuchtung dazu an, die Dinge einseitig, isoliert von der Gesamtwirklichkeit des Lebens zu sehen, er nimmt den Tatsachen ihre natürliche und schlichte Bedeutung und zwingt sie zum Tribut für seine vorgefassten Ideen – gerade so, wie es nach seiner Darstellung der englische Imperialismus mit den von ihm beherrschten Ländern macht; Chamberlain hat keine Liebe für das ihm nicht innerlich verwandte Leben, vermag demselben gar nicht objektiv gerecht zu werden, kennt nur das Seinige oder das ihm Sympathische und Begreifliche und macht daraus das Universum - er ist also durchaus in dem Sinne Engländer, wie er ihn uns definiert – deutsch ist diese Art jedenfalls nicht“ (Friedrich Wilhelm Foerster: England in H. St. Chamberlains Beleuchtung — Ein Protest von Friedrich Wilhelm Foerster, München 1917, S. 3f.; dann in: ders.: Politische Ethik und politische Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung der kommenden deutschen Aufgaben. 3. Aufl. der "Staatsbürgerlichen Erziehung", München 1918, S. 69f.).
  • 1920 schrieb Foerster im Anklang an diese Auseinandersetzungen mit Chamberlain und andere Militaristen und Nationalisten sein radikalpazifistisches Buch „Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland“. Darin nahm er geradezu prophetisch Stellung gegen den Antisemitismus: „Ob das deutsche Volk für diesen Antisemitismus, dessen erster und lautester Wortführer bezeichnenderweise Treitschke war, nicht noch einmal schwer gestraft werden könne dadurch, dass ihm in der Welt das gleiche zugefügt wird, was seine Hetzer jetzt dem Juden zufügen“ (Friedrich Wilhelm Foerster: Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland. Gesichtspunkte zur deutschen Selbsterkenntnis und zum Aufbau eines neuen Deutschland, Stuttgart 1920, S. 253).
  • Und das bekannte Foerster, obwohl auch er selbst durchaus von hässlichen und selbstsüchtigen „Erscheinungen des entwurzelten Judentums“ und von „schlechtem und entartetem Judentum“ sprach. Er wandte sich aber entschieden gegen jeglichen militanten Antisemitismus. Er wiederholte in diesem Buch schließlich auch die Schlusssätze des Kapitels über die Judenfrage aus seiner „Politischen Ethik und Politischen Pädagogik“ von 1918, die zuvor schon 1916 separat in der Zeitschrift „Freideutsche Jugend“ publiziert wurden: „Es ist etwas von der Vorsehung Bestimmtes, dass in vielen Erscheinungen des entwurzelten Judentums uns die ganze Hässlichkeit und Gottverlassenheit der Selbstsucht in ihren verschiedensten Erscheinungsformen ausgewachsen und abstoßend vor Augen tritt. Wir können uns dagegen aber nur dadurch zur Wehr setzen und zugleich dem hochgeborenen Volke selbst aus seiner weltgeschichtlichen Not heraushelfen, — dass wir uns gerade im Angesichte der AUSGEWACHSENEN SELBSTSUCHT ZUR AUSGEWACHSENEN LIEBE bekennen und dieses Bekenntnis im Umgang mit dem Judentum zur Tat werden lassen. Dies allein heißt an Christus glauben - alles andere ist doch nur verschleierte Politik der Selbstsucht und steigert auch im Judentum alle Gewalten des Bösen. Wir werden immer und überall für eigene Selbstsucht dadurch gestraft, dass wir auch in anderen die Dämonen entfesseln — wir werden für jeden Fortschritt in der Liebe dadurch belohnt, dass wir neue Kraft gewinnen, auch in den anderen das göttliche Leben zu wecken. Dies heißt nicht, alles dulden und sich alles gefallen lassen. Im Gegenteil: Christus erst macht uns wahrhaft lebendig im Kampf gegen das Böse, aber er zeigt uns, wie wir kämpfen können, ohne angesteckt zu werden von dem, den wir bekämpfen. Und er lehrt uns, das, was wir in anderen bekämpfen wollen, zunächst in uns selber von Grund aus zu überwältigen: erst dadurch erhalten wir weltüberwindende Kräfte, erst dadurch kämpfen wir wirklich und aufrichtig GEGEN das Böse – alles andere ist nur ein Scheinkampf: man lässt die EIGENEN BÖSEN HUNDE LOS, um das FREMDE Böse zu vernichten, das Ende des Ganzen ist nur, dass wir uns und andere noch böser gemacht haben. Mit dem schlechten und entarteten Judentum werden wir nur dann fertig werden, wenn wir uns mit dem edlen und innerlich befreiten Judentum verbinden. Damit die edleren Juden aber gegen die Erbschaften des Ghettos wirklich mobil gemacht werden, müssen wir alles tun, diese edlen Elemente nicht durch verallgemeinernden Antisemitismus in Kameraderie mit den schlechten Elementen hineinzutreiben“ (Friedrich Wilhelm Foerster: Betrachtungen zur Judenfrage, in: Freideutsche Jugend, 2, 1916, S. 278-289, dann in: ders.: Politischen Ethik und Politischen Pädagogik, 1918, S. 255. Überprüfen???. Siehe dazu die Besprechung in: Der Jude. Eine Monatsschrift, 1, 1916, S. 772.
  • In der 1959 erschienen Schrift „Die jüdische Frage“ nahm Foerster im Kapitel „Ariertum und Semitentum sind zu gegenseitiger Ergänzung bestimmt“ erneut auf Chamberlain Bezug: „H. St. Chamberlain hat die arische Rasse als die sich selbst genügende Schöpferin aller wirklich wertvollen Kultur gefeiert, aber er hat dabei ganz die Gefahren und Einseitigkeiten der arischen Begabung übersehen. Worin bestehen nun diese? Das Ariertum neigt zweifellos dazu, dort, wo es ganz auf sich selbst angewiesen ist, sich entweder in weltferne Spekulation (Indien) und in einen Schönheitskult, wie in Griechenland hatte, zu verlieren oder das Leben ganz ohne ideale Ziele anzupacken und in der bloßen Machttechnik unterzugehen. Diese Trennung der metaphysischen, übersinnlichen Welt von der Physis ist die Tragik der arischen Begabung. Die hochgesteigerten geistigen Kräfte der arischen Rasse, wie sie besonders bei den Indern, bei den Griechen und in der deutschen Philosophie hervortraten, haben leicht etwas Weltflüchtiges an sich. Daher scheut sich der arische Mensch instinktiv, die konkreten Angelegenheiten seines Lebens von seinem Idealismus aus zu behandeln, vielmehr überlässt er sich in der Bemeisterung der Wirklichkeit nur zu leicht den gröbsten Triebkräften des Daseinskampfes. Diese beiden Seiten der hier beleuchteten Gefahr können öfters in der Geschichte des Volkes in Erscheinung treten. So haben wir in Deutschland eine Zeit des weltfremden Idealismus gehabt und fast unmittelbar darauf eine ganz gottlose Vergötterung der realen Machtinteressen. Es ist nun höchst merkwürdig, wie gerade im jüdischen Genius das stärkste Gegengewicht gegen diese arische Spaltung zwischen Geist und Leben liegt, so dass in der Tat durch die Vereinigung von Semitischem und Arischem im Christentum das vollkommen Menschliche in Erscheinung treten konnte. Wir sprechen hier natürlich nur von den irdisch-kulturellen Lebensgrundlagen des Christentums“ (Friedrich Wilhelm Foerster: Die jüdische Frage. Vom Mysterium Israels, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1959, S. 69. Ähnlich schon in Foerster, Friedrich Wilhelm: Politische Ethik und politische Pädagogik, 1918, S. 352 und in: Die Judenfrage, in: Freideutsche Jugend, 1916) Und weiter: "Und eben diese Hinwendung auf die Allgegenwart Gottes im konkreten Menschenschicksal ist wohl die größte Seite der hebräischen metaphysischen Begabung. Gerade dies aber verkennt Chamberlain ganz und gar, wenn er den jüdischen Sinn für das Geschichtliche als Materialismus bezeichnet und ihn in Gegensatz zur arischen Geistigkeit rückt. Es handelt sich doch in Wirklichkeit keineswegs um einen „Materialismus", sondern nur um eine andere Art, das Wirken des göttlichen Geistes im Leben zu begreifen und zu fördern. Die Juden sind ihrer tiefsten geschichtlichen Begabung nach — ich spreche hier vom Wesen des jüdischen Geistes und nicht von den entwurzelten modernen Juden — überhaupt ein Missionsvolk, das die geistigen Grundlagen des Lebens und der Gesellschaft unvergleichlich stärker empfunden hat als irgendein anderes Volk“ (Ebd., S. 71. Auch: a.a.O. 1918, S. 354 und 1916). Schließlich: „Der europäische Nationalismus, der aus dem revolutionären Frankreich stammte, hat sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland zum Rassenwahn und von dort aus zu einer ganz neuen Art von Antisemitismus entwickelt, für dessen Begründung und politische Zielsetzung das bekannte Werk von Houston Stuart Chamberlain über „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" besonders maßgebend wurde. Es ist hier nicht der Ort, auf alle diese Rassentheorien einzugehen. Es genüg daran zu erinnern, dass die nationalsozialistische Judenhetze und alle ihre Wertungen und Entwertungen auf jene Rassentheorien gegründet waren“ (Friedrich Wilhelm Foerster: Die jüdische Frage, a.a.O. 1959, S. 108).
  • Gerade von den frühen Nationalsozialisten wurde Foerster dieser Kampf gegen den Militarismus und Nationalismus und die Rassentheorie Chamberlains als antideutsch ausgelegt und sie bedrohten ihn mit dem Tode. Es gilt sogar als möglich, dass Hitlers Titelwahl „Mein Kampf. Eine Abrechnung“ unter anderem auch gegen Foerster gerichtet ist.

Wilhelm Vollraths und die nationalsozialistische Würdigung Chamberlains

  • Der Erlanger Professor Wilhelm Vollrath (1887-1968), evangelischer systematischer Theologe und Religionsphilosoph, kann 1935 von Houston Stewart Chamberlain als "Freund Deutschlands" sprechen (Wilhelm Vollrath: Thomas Carlyle und Houston Stewart Chamberlain - zwei Freunde Deutschlands, München 1935) und 1937 schließlich eine Würdigung „Houston Stewart Chamberlain und seine Theologie“ aus deutschchristlicher und nationalsozialistischer Sicht schreiben, zumal er in Erlangen Vertrauensmann des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes war (Wilhelm Vollrath: Houston Stewart Chamberlain und seine Theologie, Erlangen 1937), die die Kontrapunkte nochmals eindrücklich offenbar macht:
  • Chamberlains Denken sei geprägt von der „Idee des Kampfes“ „in verschiedenen Formen“ und „Zwiespältigkeiten der universalistischen Idee (Staat und Kirche“ und des „Lehrsystems (Theologie und Philosophie)“ sowie dem Kampf zwischen den Lebensanschauungen von „Nord und Süd“, personalisiert in Martin Luther und Ignatius von Loyola, dem „Antiluther“ „in dem der Kampf gegen das Germanische sich... verkörperte“ (Vollrath, ebd., S. 128 unter Berufung auf die Grundlagen, S. 521ff.)
  • Chamberlain entscheide sich ganz hegelianisch für den Staat gegen die römisch-katholische Kirche, für die Philosophie, die zur „echten Theologie“ stilisiert wird, gegen die paulinisch-augustinische Theologie, und für die Lebensanschauung des protestantischen Nordens gegen den katholischen Süden.
  • Die Religionslehre des Paulus werde bei Chamberlain kurzerhand zum „Gordischen Knoten“, der durchschlagen werden muss (ebd., S. 127), und er selbst zum „Mischling der Natur und ohne Heimat“, der „verantwortlich für die Fortentwicklung des Kirchenbegriffs als Gottesstaat auf Erden, als einer Theokratie alttestamentlichen Gepräges mit priesterlicher Hierarchie an der Spitze“ (ebd., S. 123).
  • Nun sei jedoch „der Norden zum Träger des Geistes und eines staatlichen Lebens geworden.“
  • Chamberlain habe für seine Position im „Kampf der Welt- und Lebensanschauungen, letztlich zweier Religionen... den Schlüssel... bei Kant“ gefunden, „der äußere Grenzen bestimmt hatte, um der Vernunft ihre Unendlichkeiten zu zeigen“ (ebd., S. 128).
  • Vgl. "Zur NS-Rezeption Chamberlains", das gleichnamige Kapitel in: Udo Bermbach: Houston Stewart Chamberlain, 2015.