Politiker mit Ehrfurcht. Ein persönliches Wort zur Wahl
473 (G 43/OO VI): Politiker mit Ehrfurcht. Ein persönliches Wort zur Wahl, in: Politisch-soziale Korrespondenz, Bonn, 2, 1953, 15, 1. August, S. 2-4 [Mercker 0922];
Werkbiographie
Zwischen den drei 1953 erschienen Fassungen "Politiker mit Ehrfurcht", "Politik mit Ehrfurcht" und "Verantwortung und Urteilsmöglichkeit in politischen Fragen" gibt es Abweichungen. Der Entwurf und somit die Grundlage dazu wurde 1970 von Felix Messerschmid aus dem Nachlass veröffentlicht.
Nachdrucke und Auszüge
- Politik mit Ehrfurcht, in: Frankfurter Volksblatt, 22. ??? 1953 [neu aufgenommen]
- Verantwortung und Urteilsmöglichkeit in politischen Fragen. Ein Brief in der Zeit vor den Wahlen, in: Der christliche Sonntag, Freiburg im Breisgau, 5, 1953, 33 (16. August 1953), S. 264 [Gerner 19];
- Verantwortung und Urteilsmöglichkeit in politischen Fragen, in: Lebendiges Zeugnis, 1965, 4, S. 42-43 (dort irrtümlich angegeben mit Auszug aus einem unveröffentlichten Brief an "Verehrte und liebe Freunde" von 1953) [Mercker 1663];
- vollständig unter dem Titel "Verantwortung und Urteilsmöglichkeit in politischen Fragen. Ein Brief in der Zeit vor den Wahlen" veröffentlicht durch Felix Messerschmid, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Stuttgart, 21, 1970, S. 719-721 [Mercker 1804]
- unter dem ursprünglichen Titel eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. IV, 2003 (G 43) [neu aufgenommen]
Guardini-Konkordanz
Übersetzungen (in mind. 1 Sprache)
- OO VI: Politici con rispetto. Una riflessione personale sulle elezioni, in: Opera omnia VI. Scritti politici, Brescia 2005 (hrsg. von Michele Nicoletti), S. 441-446, ins Italienische übersetzt von Maurizio Merlo, Maurizio Ricciardi und Giulio Colombi [neu aufgenommen]
Zusammenfassung und Kommentar (Helmut Zenz)
Am 1. August 1953 stand in der “Politisch-sozialen Korrespondenz” ein “persönliches Wort zur Wahl” unter dem Titel “Politiker mit Ehrfurcht” [in: Politisch-soziale Korrespondenz, Bonn, 2. Jg., 1953, 15, 1. Aug., S. 2-4]. Er betonte darin unter anderem, dass nur derjenige "politisch urteilen“ könne, der „eine ausgebreitete Kenntnis der inneren und äußeren Vorgänge, Übung im Erfassen der Zusammenhänge, Sicherheit im Abwägen von Ursachen und Wirkungen hat"[ebd., S. 2]. In politischen Angelegenheiten gebe es nie das 'Richtige', höchstens das 'Richtigste' unter mehreren Alternativen, "manchmal nur das am wenigsten Falsche"[ebd., S. 4].
Grundlage für diesen Text war ein ausführlicherer “Brief in der Zeit vor den Wahlen” mit dem Titel “Verantwortung und Urteilsvermögen in politischen Fragen”, den Felix Messerschmid 1970 posthum herausgegeben hat [Romano Guardini: Verantwortung und Urteilsvermögen in politischen Fragen. Aus dem Nachlass veröffentlicht von Felix Messerschmid in: Geschichte und Wissenschaft, 21. Jg., 1970, S. 719-721].
Guardini war damals von Freunden gebeten worden, "etwas zu den bevorstehenden innenpolitischen Entscheidungen zu sagen.” Guardini bekannte sich darin einerseits dazu, dass er selbst “von praktisch-politischen Dingen nichts verstehe“ und er „über Dinge des konkreten politischen Handelns … kein Urteil” habe. Dagegen sei ihm „über das Leben des Menschen in den geschichtlichen Verbundenheiten von Volk, Land und Staat … einiges klar geworden.“ Guardini hielt demnach auch das Postulat für falsch, “jeder Mensch sei verpflichtet, sich mit politischen Dingen zu beschäftigen. Jeder müsse ein Urteil über sie gewinnen und sich aktiv an ihnen beteiligen.” Denn auch dazu müsse man “befähigt und vorbereitet” sein. Das Politische sei nicht so, “als sei hier jeder Mensch von Natur imstande, mitzureden und Entscheidungen zu treffen.”
Guardini ist überzeugt: “In Wahrheit kann nur jener über die Fragen des politischen Lebens urteilen, der Zusammenhänge, Sicherheit im Abwägen von Ursachen und Wirkungen hat.” Dazu bedürfe es der Begabung [Ebd., S. 719]. Etwas anderes sei es aber, dass alle “in der staatlichen Gemeinschaft” stehen und daher für sie Verantwortung haben.
“Der Staat soll keine Maschinerie sein, die über uns wegfunktioniert, sondern ... Ausdruck unseres Willens und Gewissens” [ebd., S. 720].
Guardini äußerte sich skeptisch über den tatsächlichen Gehalt von Parteiprogrammen. Er lasse sich daher bei seiner eigene Wahlentscheidung lieber von den Handlungsweisen der Politiker “in Ausnahme-Situationen, aber auch im Alltag” leiten. Maßstäbe seien dabei der Umgang mit dem ihnen entgegengebrachten Vertrauen, der Respekt vor dem Menschen, die Achtung vor dem Werk des Menschen, der Schutz vor zu viel Organisation und Bürokratie, die Festigkeit ihrer Grundsätze [ebd., S. 720 f.].
Guardini neigte daher auch eher zur Befürwortung eines Personenwahlrechts, da das jetzige “abstrakte Verfahren” seinem persönlichen Eindruck nach das menschliche Gegenüber vernachlässige. In jedem Falle solle man sich bei der Wahl „dahin entscheiden, wo die Chance der Zuverlässigkeit, der Achtung vor den Menschen und der Gewissenhaftigkeit am größten ist” [ebd., S. 721].
Nach einem von Guardini als äußerst problematisch empfundenen Lagerwahlkampfes notierte am Tag der Wahl, dem 6. September, äußerst pessimistisch in sein Tagebuch: “Am Morgen Wahl. Was ist das im Letzten doch für eine schwankende Sache. Wenn man die Leute zum Kurhaus gehen sah, wo die Wahl stattfand – was verstanden die allermeisten von dem, über das sie bestimmen sollten? Ich verstehe im Grunde auch nichts davon, sondern schließe mich Leuten an, denen ich mich zugehörig fühle. Und all die Ganz-Jungen; und die vielen Frauen, die zum politischen Leben überhaupt keine Beziehung haben. Demokratie ist eine Utopie und zutiefst irrealistisch. Was echte Politik macht, sind die Kräfte der Dauer, des Urteils, der Überschau, der Erinnerung und realistischen Voraussicht. Wie sollen die Vielen etwas davon haben? Demokratie ist das Mittel, eine autoritative Regierung auszulöschen und eine andere vorzubereiten. Ich glaube, in zwanzig Jahren haben wir wieder autoritative Regierungen. Der Unterschied wird nur sein, ob sie die Person achten oder sie missbrauchen” [Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 186 f.].
Er sollte Unrecht behalten, allerdings nicht mit seiner Aussage über die gestiegene Bedeutung des „autoritativen“ Elements in der Regierung und vielleicht auch nur in der Prognose des Zeitrahmens, denn für die Zeit fünfzig bis siebzig Jahre danach sieht die Frage nach autoritativen Regierungen schon ganz anders aus.
Zwar wird Guardini dann vom Ausgang der Wahl - es gab einen Wahlsieg der Christlich-Demokratischen Union, die von 31,0 % auf 45,2 % anstieg und damit die absolute Mehrheit der Mandate erreichte – überrascht, letztlich seine Skepsis aber nur umgelenkt:
“Zuerst war man erstaunt, dann erleichtert, dann besorgt. Ein Grieche hätte gesagt: Gebt Acht! Die Gunst kann eine Falle des Schicksals sein. Es war schon mehrmals so, dass nach dem Versagen der liberalen Gescheitheiten und sozialistischen Programme die Gewissensfestigkeit der Christen als einzige Chance erschien. Aber ob ihre politische Schulung und ihre menschlichen Qualitäten ausreichen? Immer bleibt das böse Erbe des Kulturkampfes durch den die katholischen - im Grunde überhaupt die wirklich gläubigen - Christen aus der Führung gedrängt worden sind” [ebd., S. 187].
Konrad Adenauer hätte fortan alleine regieren können, behielt aber die Koalitionsregierung mit FDP, DP und BHE bei.