"Fratelli tutti". Papst Franziskus und Romano Guardini über die neue politische Wirklichkeit der Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit

Aus Romano-Guardini-Handbuch

"Fratelli tutti". Papst Franziskus und Romano Guardini über die neue politische Wirklichkeit der Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit im Blick auf den Polyeder der Begegnung, die polyzentrische Welt und die Polyphonie der Wahrheit

Wer in der Sozialenzyklika "Fratelli tutti" von Papst Franziskus liest, wird sich schnell wieder bewusst werden, dass der Religionsphilosoph Romano Guardini schon vor hundert Jahren auf sehr ähnliche Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat.

Guardinis Blick auf das Ganze lebendiger Politik

Bereits 1925, also schon vor fast 100 Jahren, hat Guardini geschrieben, dass auf den Grundlagen eines neuen "Menschenwelt-Bewußtseins ... ein neues geschichtlich-politisches Bewußtsein erstehen" müsse: "das Bewußtsein vom lebendigen Erdraum, in seiner menschlichen Bezogenheit; von der Menschheitswirklichkeit in ihrer inneren Gliederung und wechselseitigen Mitgegebenheit; das Bewußtsein vom lebendigen Gesamtzug der Geschichte; von der geschichtlichen Teleologie und Gesamtgestalt in ihrer Beziehung auf das Jetzt, und das Jetzt in seiner Stellung zu jener. Das zu spüren, und wie die wirkenden Wirklichkeiten dieses Ganze bauen; das Ganze zu spüren, als Naturvorgang und Naturzusammenhang, von Notwendigkeiten getragen; zugleich aber als Aufgabe der frei schaffenden Person in die Hand gegeben; den Einzelnen im Gesamten und das Gesamte im Einzelnen - das ist Voraussetzung lebendiger Politik." (Vom liturgischen Mysterium, 1925, dann wieder in: Liturgie und liturgische Bildung, 1966, (2)1994, S. 141)

Guardini versteht dabei "lebendige Politik" als die "Kunst, für Kräfte, Dinge und Menschen, für lebendige Wirklichkeiten Luft und Ordnung zu schaffen, in der sie zusammen bestehen und sich zu einem Höchstmaß von Leben entfalten können." Und sieht wichtige Voraussetzungen dafür in einer "tiefen Besinnung ..., was "Kritik" im Wesen ist; welche Kräfte in ihr wirken; wann sie baut, wann sie zerstört." sowie in einer "Kritik der Kritikfähigkeit" als "Bewußtsein, wann einer in der Lage ist, den Gegenstand richtig zu sehen; zu messen; zu beurteilen, und wann nicht." (Über die Möglichkeit öffentlichen Sprechens (1924), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 2, 2001, S. 251)

Im Jahre 1946 konstatierte Guardini im Blick auf das Not-Wendige im Denken und Handeln der Menschen: „So wird es darauf ankommen, ob man sich darauf stützt, dass die geschichtlichen Umbrüche ja niemals mit einem Ruck vor sich gehen, sondern Stränge des Früheren noch lange über die Zeit hinaus laufen, in der der Mittelpunkt, der Schwerpunkt des Geschehens schon längst anderswohin gerückt war, und ob man sich so etwas sucht, worin das Frühere `noch´ besteht - oder ob man sich berufen fühlt, in das Neue einzutreten und dort mitzuwirken, um den Ertrag des Früheren hinüberzuretten, bzw. ob man nach der Weise sucht, wie das Menschlich-Unerlässliche im Neuen zur Geltung kommt." (Zum Problem der Demokratie, 1946, zitiert nach Geschichte und Wissenschaft, 1970, S. 716) Dieses Zitat hat mich dazu veranlasst, seit 2005 bei Guardini von der „Politischen Theologie des "Menschlich-Unerlässlichen im Neuen"“ zu sprechen und sie den gängigen politisch-theologischen Modellen katholisch-nationalistischer und katholisch-sozialistischer Kreise in der europäisch-lateinamerikanischen Theologie im 20. Jahrhundert gegenüberzustellen.

Guardinis Vorstellung geht zwar mit allen politischen Theologien wesentlich davon aus, dass „Gott ein Politikum“ ist. Für Guardini garantiert aber er als einzige lebendig-konkrete Gesamtwirklichkeit allein „den sittlichen Charakter der politischen Existenz.“ (Ethik, 1993, S. 881). Nicht der Mensch oder die Welt als Gesamtheiten und schon gar nicht der Staat oder einzelne gesellschaftliche Bewegungen oder Parteiungen in ihm können dies gewährleisten, sondern allein die Theonomie als Spannungseinheit der Pole Autonomie (natürlicher Egoismus, Selbstgehörigkeit) und Allonomie (natürlicher Altruismus, Zugehörigkeit) (vgl. schon Bekehrung des Aurelius Augustinus, 1935, S. 120). Ohne Gottgehörigkeit, ohne den freien Willen als Kinder zum dreifaltigen, lebendig-konkreten Schöpfer- und Erlöser-Gott gehören zu wollen, gehen sowohl Autonomie als auch Heteronomie ins zerstörerische, abstrakt-begriffliche Extrem. Der Staat als „präsenter Gott“ und „Weltgeist“ wird absolutistisch und totalitär, der Vereinzelte als „präsenter Gott“ und „Weltgeist“ wird elitär und diktatorisch.

Schon in seiner ersten politisch-theologischen Ausarbeitung, dem 1916 erschienenen Aufsatz „Die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für das sittliche Leben der Gemeinschaft“ (Theologie und Glaube, Paderborn, 1916, S. 400-406) spricht er von der "Magna Charta der Pflicht und Würde jeder menschlichen Gemeinschaft", die aber gerade darauf gründe, dass um die sittlichen Persönlichkeiten notwendigerweise "ein heiliger Ring“ liege, „den niemand überschreiten darf, es sei denn, er öffne sich von selbst; ja, bis zu einem gewissen Grade darf er sich selber nicht öffnen, ohne sich zu entweihen.“ Gerade in dieser Wechselwirkung sei das "Geheimnis der Heiligsten Dreifaltigkeit" das Vorbild des Gemeinschaftslebens und jede wirkliche, das heißt bei Guardini immer lebendig-konkrete Menschengemeinschaft ist dann auch "ein 'VESTIGIUM TRINITATIS', ein Spurbild der dreieinigen Gottesgemeinschaft.“ Von diesem Geheimnis und von der ebenfalls daraus entwickelten Gegensatz- und Weltanschauungslehre ausgehend macht Guardini sich in den zwanziger Jahren Gedanken über den Dialog und die Begegnung, schließlich über die „neue politische Wirklichkeit“ (1924) und den „Staat in uns“ (1924), über die Anliegen des Völkerbundes (1925) und über politische Bildung (1926), über die Ordnung unter Personen (1926) und über das Verhältnis von Christentum und Kultur (1926).

Vergleich mit den Aussagen in "Fratelli tutti"

Wenn man diese frühen Äußerungen Guardinis nun mit der neuen Sozialenzyklika von Papst Franziskus „Fratelli tutti“ vergleicht, bekommt man ein ambivalentes Gefühl: einerseits die Beklommenheit darüber, dass eben diese Menschheit offensichtlich die letzten hundert Jahre nicht wirklich viel „dazugelernt“ hat, so dass etwas, was vor hundert Jahren für Guardini schon offenkundig war, zum wiederholten Male angemahnt werden muss; andererseits die Freude darüber, dass der jetzige Papst einen ausgeprägten Sinn für eben jene „politische Theologie des Menschlich-Unerlässlichen im Neuen“ wie Guardini besitzt und auch weiterhin den Mut hat, ihn gegenüber den neuerlichen Einseitigkeiten in Politik, Wissenschaft und Kultur zu vertreten. Letztere Freude ist dann eng verknüpft mit der Freude darüber, dass der Papst selbst Guardini als geistigen und geistlichen Lehrer der Kirche sieht, und Guardini über 50 Jahre nach seinem Tod durch die Eröffnung eines Seligsprechungsverfahrens jene kirchliche Anerkennung erfährt, die ihm zwar schon als „Vordenker und Vorbereiter“ des Zweiten Vatikanischen Konzils zuteil geworden ist, ihm als „dauerhafter“ Kirchenlehrer aber unmittelbar nach seinem Tod über einige Jahrzehnte hinweg versagt geblieben ist, weil viele seine grundsätzlicheren, noch immer unerfüllten Anliegen gegenüber den im Konzil erfüllten Anliegen der liturgischen und ökumenischen Bewegung aus dem Bewusstsein verschwanden - im nachkonziliaren Gezerre zwischen den subjektivistischen Anschauungen „das Konzil war gut, ging aber zu weit“ und „das Konzil war gut, aber ging noch nicht weit genug“.

Wie Guardini geht auch Papst Franziskus davon aus, dass „wenn wir zur letzten Quelle gehen, die das innerste Leben Gottes ist“, wir „einer Gemeinschaft von drei Personen, Ursprung und vollkommenes Modell jedes Lebens in Gemeinschaft“ begegnen (85). Gemeinsam ist beiden die große Verehrung des heiligen Franziskus, dieses „Heiligen der geschwisterlichen Liebe, der Einfachheit und Fröhlichkeit“ (Enzyklika; 2.) und „liebevollen Vaters“ (4.) , der schon vor achthundert Jahren jene Menschen selig pries, die den anderen „auch wenn er weit von ihm entfernt ist, genauso liebt und achtet, wie wenn er mit ihm zusammen wäre“ (1.) und alle dazu einlud, „eine demütige und geschwisterliche `Unterwerfung´ zu üben, sogar denen gegenüber, die ihren Glauben nicht teilten.“ (3.) Gemeinsam ist ihnen schließlich mit dem heiligen Franziskus die Idee und Praxis einer Geschwisterlichkeit mit allen Geschöpfen, ja sogar mit den Dingen. Beim Besuch eines Schumachers schilderte Guardini einmal: „Ich fühlte, welch tiefe Geschwisterlichkeit mich mit jenen demütigen Dingen verband, und daß es eine Kinderei ist, Reiche der Natur zu unterscheiden, da es doch nur ein einziges Reich Gottes gibt. Darf man denn sagen, die Dinge hätten uns niemals ein Zeichen ihres Mitgefühls gegeben? Das Werkzeug, das der Hand des Arbeiters nicht mehr dient, verrostet ebenso, wie der Mensch, der das Werkzeug wegwirft.“ (In Spiegel und Gleichnis, S. 71) Eine solche Sichtweise verbietet jegliche Form von „Wegwerf-Kultur“ (188.)

Es wirkt wie ein Anachronismus: Während Guardini Mitte der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts - also ausgerechnet in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg - keineswegs selbstverständlich von einer offensichtlichen Zunahme des Menschheitsbewußtseins spricht, konstatiert Papst Franziskus zu Beginn der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts: „In der gegenwärtigen Welt nimmt das Zugehörigkeitsgefühl zu der einen Menschheit ab, während der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen, wie eine Utopie anderer Zeiten erscheint“ (30.), nicht zuletzt weil wir uns „mit Connections vollgestopft und darüber den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren“ hätten (33.).

Ein einziger bedeutsamer Unterschied

Hier wird der wohl einzige bedeutsame Unterschied zwischen Papst Franziskus und Guardini deutlich: Zwar ist Papst Franziskus selbst weit von einem Untergangs-Kulturpessimismus entfernt, verfällt aber angesichts der konstatierten Fehlentwicklungen in ein letztlich pessimistisches, moralisches Appellieren. Guardini hingegen versteht seine Aussagen – wie auch schon sein 1922 gesprochenes, oft missverstandenes Diktum: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: die Kirche erwacht in den Seelen“ - keineswegs als Optimismus oder gar Zweckoptimismus für ein steigendes Maß an „Kirchlichkeit“ oder „Kosmopolitismus“, sondern als „Verheißung“. 1959 kennzeichnet er in seinem Text „Die Maschine und der Mensch“ diese Forderung selbst als „realistische Utopie“: „Das menschliche Dasein ist so weit vorgeschoben, der Mensch so sehr sich selbst in die Hand gegeben, die Möglichkeiten des Leistens wie des Zerstörens so unabsehlich geworden, daß es Zeit ist für eine neue Tugend: eine geistige Regierungskunst, in welcher der Mensch, durch soviel Erfahrung ernst geworden, aus der Befangenheit in die Einzelbereiche des Denkens und Lebens herausträte. Das geschähe also in diesen Besten. Ein lebendiges Menschheitsbewußtsein würde sie fähig machen, das Ganze unserer Existenz zu überschauen, und in einer wahrhaft souveränen Sachlichkeit würden sie die "res hominis" bedenken. Eine Utopie, wie gesagt; aber Utopien sind ja oftmals Vorläufer sehr ernsthafter Erkenntnisse und Taten gewesen. Wenn ich recht sehe, rührt sich manches in dieser Richtung; es beunruhigt aber, daß alles so vereinzelt und zögernd geht. In der Geschichte arbeiten die schaffenden und verbindenden Kräfte langsamer, als die einseitig-gewaltsamen, und das Lösend-Helfende kommt oft zu spät. Es wäre eine große Huld der Geschichte, wenn jene Helligkeit des Bewußtseins, zu dessen Bildung Wissenschaft und Technik soviel beigetragen haben, fähig würde, dem Drohenden zuvorzukommen“ (in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, (3)1994, S. 278).

Ungehindert seiner eigenen klaren Sicht auf die Gefahren der Manipulationen der von Guardini sogenannten „Es-Mächte“ und der Zerstörung der Person und ihrer Würde, geht Guardini also von der Verheißung, nicht von den Gefahren aus. Daher steht bei ihm nach einer Kritik der modernen Entwicklung nicht der moralische Appell, sondern die Forderung nach einer „(Selbst-)Bildung in Bewährung und Begegnung“ im Vordergrund. Er beantwortet sich in seiner bereits 1928 erstmals veröffentlichten „Grundlegung der Bildungslehre“ seine eigene Frage, was „mich“ „davor schützen“ kann, „Gegenständliches in mich aufzunehmen, das mich zerstört“, was „mich davor bewahren“ kann, „daß ich von den Gegenständen aus meinem eigenen Mittelpunkt herausgerissen werde und in die Knechtschaft der Dinge gerate“ und was hindern kann, „daß ich vom Chaos der äußeren Dinge auseinandergezerrt werde?“ Es braucht ein „in mir“ lebendiges Prinzip der Auswahl“, „ein Gefühl für Zugehöriges und Fremdes, Zerstörendes und Aufbauendes“ und somit „ein lebendiges, inneres Zentrum in mir selbst“, „ein inneres Gesetz, eine wirksame Gestalt des Aufbaues und des Tuns; eine sichere Initiative der Bewegung; ein Instinkt für die Annahme oder Ablehnung des Begegnenden.“ Eben dies seien aber die „Faktoren der beiden ersten Standpunkte: von Bild und Bildung; von Begegnung und Bewährung.“ (Grundlegung der Bildungslehre,, Topos, S. 73)

Von der Selbstbildung zur politischen Bildung - von der polyphonen Wahrheit zur polyzentrischen Welt-Gestalt

Von diesen Faktoren aus wird dann diese Selbstbildung zur politischen Bildung. Denn: „Politik ist besonnenes Arbeiten mit stets neu sich formenden Kräften der Wirklichkeit, das aber zugleich durch die Stetigkeit lebendigen Seins Linie hält - wie wenig hat, was sich heute so nennt, damit gemein! Gewalt überall, des Schlagwortes, der Partei, der Gerissenheit. Darum geht's, daß der "Geist der Feinheit" wieder erstehe! Der fest ist und geschmeidig, zart und stählern. Der weiß: Die Wahrheit ist polyphon, erst aus dem verschlungenen Gesträhn vieler Stimmen klingt sie heraus.“ (Heilige Gestalt. Von Büchern und mehr als von Büchern (1924), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 2, 2001, S. 186)

Der Gedanke der Polyphonie der Wahrheit ist eng verknüpft mit dem Gedanken einer polyzentrischen statt monozentrisch oder gar egozentrischen Weltstruktur: „An Stelle der monozentrischen, egozentrischen Weltstruktur, in welcher - oft mit merkwürdiger Selbstverständlichkeit behauptet - ein einziger Mittelpunkt ist, das eigene Selbst; alle Dinge und Vorgänge nur Umwelt davon; alles nur von dort her belichtet, gedeutet, bewertet; und nicht nur die Dinge, auch die Menschen, die also gar nicht als Personen, sondern nur als Lebewesen, als Individuen, mithin im Grunde auch als "Dinge" genommen werden - an Stelle dieser in der Egozentrik des Einzelnen vereinfachten Welt tritt nun eine immer kompliziertere. Sie ist polyzentrisch gebaut; bildet ein vielfaches System von personalen "Mitten"; enthält mehr oder weniger zahlreiche einander überschneidende "Umwelten" mit ihren besonderen Deutungen, Wertungen und Teleologien. So viele Umwelten sind mit ihrem Anspruch an mich da, wie mir echte "Du" gegenüberstehen. Sovielmal ich in wirkliches Du-Verhältnis trete, so oft ist für mich die Welt zentriert und damit kompliziert ... Wenn nun die Bewegung zum Anderen hingeht, dann geht sie von Welt in Welt; von Mitte zu Mitte. Nun muß sie die Gedanken, Wertungen, Empfindungen transponieren, aus der Zentriertheit im eigenen Selbst in die Zentriertheit in jenem dort. Verstehen heißt hier nicht nur einen dastehenden Gegenstand erfassen, sondern den gewohnten Beziehungspunkt herumwerfen, und den Anderen erfassen daheraus, daß die ganze Welt, das ganze Dasein in ihm zentriert sind. Das Gesagte ist weiter nichts als der Versuch, deutlich zu machen, was eigentlich Sätze meinen, wie diese: "Den Nächsten lieben wie sich selbst"; "dem Anderen nicht tun, was einer nicht will, daß jener ihm tue" - und um wie Großes es dabei geht.“ (Möglichkeit und Grenzen der Gemeinschaft (1932), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, (3)1994, S. 92 f.)

Auf dem Weg zu einer neuen politischen Wirklichkeit der Nächstenliebe

Wenn Papst Franziskus neben dem heiligen Franziskus neben Martin Luther King, Desmond Tutu und Charles de Foucauld ausdrücklich auch auf Mahatma Gandhi als „Inspirator“ seiner Überlegungen zur Geschwisterlichkeit aller Menschen hinweist, erlaubt dies schließlich den Hinweis einen oft übersehenen Aufsatz Guardinis über eine mit dem Namen Gandhi verknüpfte „neue politische Wirklichkeit“ aus dem Jahre 1924: Darin möchte er „nur auf eine Realität hinweisen, die wir nicht mehr übersehen dürfen, wollen wir nicht untergehen. Auf eine neue Realität zu den alten. In der Person Gandhis geschieht, wenn anders ich ihn recht verstehe, das bisher Unerhörte: Wahrheit, Recht, Würde werden in ihrer geistigen Wesenheit selbst unmittelbar zur politischen Potenz. Menschen erfüllen ihre ganze Seele damit. Verzichten auf alles, was Gewalt und List heißt. Stellen sich ganz auf die Wahrheit. Diese wird von ihnen als wirkende Wirklichkeit erlebt, die sich mitten unter den andern politischen Realitäten durchsetzt, sobald Menschen ihr die Bahn bereiten. Sobald eine hinreichend große Anzahl Menschen wahr bleibt, und so zur lebendigen Auswirkungsebene für die Wahrheit wird. Das bedeutet natürlich Bereitschaft zum Opfer. Das Mittel, wodurch hier die Wahrheit zur politischen Potenz wird, ist die Opferbereitschaft von Menschen, die sich dafür zur Verfügung stellen.“ (Eine neue politische Wirklichkeit, in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 2, 2001, S. 156f.)

Diese Form der Nächstenliebe bezeichnet die Christliche Gesellschaftslehre der Katholischen Kirche seit Pius XI. im Jahre 1927 als „politische Nächstenliebe“. Und Papst Franziskus greift diese „umfassendere Nächstenliebe“ auf und verknüpft sie mit seinem Bild des „Polyeders“: „Denn ein Einzelner kann einer bedürftigen Person helfen, aber wenn er sich mit anderen verbindet, um gesellschaftliche Prozesse zur Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit für alle ins Leben zu rufen, tritt er in »das Feld der umfassenderen Nächstenliebe, der politischen Nächstenliebe ein«“ (180.) „Die politische Nächstenliebe drückt sich auch in der Offenheit für alle aus. Vor allem wer Regierungsverantwortung trägt, muss zu Verzichten bereit sein, damit Begegnung möglich wird. […] Er kann dem Standpunkt das anderen zuhören und zulassen, dass jeder seinen Raum findet. Mit Verzicht und Geduld kann ein Regierender die Schaffung jenes schönen Polyeders begünstigen, in dem alle Platz finden“ (190). Bereits 2013 in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ hatte er „dazu eingeladen, eine Kultur der Begegnung zu entwickeln, die über die stets aneinandergeratenen Dialektiken hinausgeht. Es ist ein Lebensstil, der eine Polyederbildung mit vielen Facetten und sehr vielen Seiten, die aber zusammen eine nuancenreiche Einheit bilden, fördert, denn »das Ganze ist dem Teil übergeordnet«. Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn“ (215.). Beim Polyeder wird „zwar jeder einzelne Teil in seinem Wert respektiert“, aber zugleich, dass »das Ganze mehr ist als die Teile, und […] auch mehr als ihre bloße Summe«.“ (145.) Deshalb kann es auch nicht darum gehen, „für einen Synkretismus einzutreten, und auch nicht darum, den einen im anderen zu absorbieren, sondern es geht um eine Lösung auf einer höheren Ebene, welche die wertvollen innewohnenden Möglichkeiten und die Polaritäten im Streit beibehält«.“ (245.)

Der Bezug zur Lebensphilosophie Georg Simmels: Der Mensch als "Grenzwesen"

In seiner neuen Enzyklika konstatiert Papst Franziskus nun darüber hinaus: „Letztlich erfordert dieser Ansatz, dass wir freudig akzeptieren, dass kein Volk, keine Kultur oder Person sich selbst genügen kann. Die anderen sind konstitutiv notwendig für den Aufbau eines erfüllten Lebens. Das Bewusstsein der eigenen Grenzen und der eigenen Begrenztheit wird, weit davon entfernt, eine Bedrohung zu sein, zum Schlüssel für die Vision und die Entwicklung gemeinsamer Projekte. Denn »der Mensch ist das Grenzwesen, das keine Grenze hat«.“ (150.)

Das Zitat stammt aus Georg Simmels "Brücke und Tür" (Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hrsg. von Michael Landmann, Koehler-Verlag, Stuttgart 1957, S. 6) und heißt im seinem ursprünglichen Kontext:

„Im unmittelbaren wie im geistigen Sinne sind wir in jedem Augenblicke solche, die Verbundenes trennen oder Getrenntes verbinden. … Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann – darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden. Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluß seines Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, daß er aus der unterbrochenen Einheit des natürlichen Seins ein stück heraustrennt. Aber wie die formlose Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet SEINE Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten“ (1914/69 … BT 6).

Wir ergänzen: und andere in aller Gastfreundschaft zu bitten, in aller Freiheit einzutreten. Eben diese von Simmel damit angesprochene Polarität von Trennen (Grenzziehung) und Verbinden (Grenzüberschreitung) findet sich auch bei Guardini, wenn er zum Beispiel als „tiefsten Sinn“ aller Gastfreundschaft ausmacht: „Daß ein Mensch dem andern Rast gebe auf der großen Wanderschaft zum ewigen Zuhaus. Daß er für eine Weile ihm Bleibe gebe für die Seele, Ruhe, Kraft und das Vertrauen: Wir sind Weggenossen und haben gleiche Fahrt. jede Gastfreundschaft ist gut, darin von solcher Gastfreundschaft der Seele etwas lebt. Sollen wir aber Gastfreundschaft üben können, so müssen wir den, der draußen ist, hereinholen, wir müssen ihm eine Heimat bieten können. Dazu müssen wir erst selber eine haben; dann können wir sagen. „Komm herein!”“ (Briefe über Selbstbildung, Topos, S. 39)

Indem Papst Franziskus diese Gedanken aufgreift, macht er sich also erneut Guardinis von Simmel her beeinflusste Gegensatzlehre zu eigen, der 1925 in seinem philosophischen Grundlagenwerk schreibt: „Die Mitte ist das Geheimnis des Lebens. Wo die Gegensätze zusammen sind; von wo sie ausgehen; wohin sie zurückkehren. Und Maß. Eine doppelte Bedeutung hat das Wort. Einmal bedeutet es Grenze. Die Gegensatzlehre schärft das Gefühl für sie. Grenze liegt bereits in der Endlichkeit unseres Wesens überhaupt. Liegt aber dann und besonders in dem, was über das Maß im Verhältnis der Gegensätze zueinander gesagt wurde; über die Abhängigkeit einer Gegensatzseite von der andern. Gegensätzlichkeit ist Begrenztheit. Die Lehre von den Todesbereichen zeigt, wie dem Leben innere Schranken gezogen sind, die es nicht überschreiten darf. So wird Gegensatzhaltung zur Maßhaltung; darin das Leben um Grenze weiß und sie wahrt; zur Ehrfurcht und Besonnenheit. Und doch können wir diese Grenzen überwinden. Nicht dadurch, daß wir sie verneinen; das wäre Unwahrheit. Auch nicht durch den Versuch, über sie hinauszuschreiten; vom Ethos der Gegensatzlehre aus gesehen Frevel und Überhebung. Die einzig mögliche Überwindung geht nach innen. Sie geschieht, wenn wir das Maß bejahen, aber es umschaffen in die andere Bedeutung des Wortes: Maß ist Einklang, rechtes Verhältnis. Bejahte Grenze wird zum inneren Verhältnis der Kräfte. Wenn wir die Grenze bejahen, verzichten wir auf Unendlichkeit. Wir gewinnen dadurch, was im Bereich des Endlichen deren Äquivalent ist, wenn man so sagen darf: die Sättigung des Endlichen mit der ihm zugewiesenen Bedeutungsfülle, Vollendung. Die Grenzen leugnen dürfen wir nicht. Sie überschreiten können wir nicht.“ Damit enthält der Begriff der „Grenze“ nicht nur etwas Negatives, sondern „auch etwas Positives: nämlich Umriß, Bestimmtheit, Eigenart, Entscheidung, deutliches So und nicht anders.“ (Der Gegensatz, (4)1998, S. 180)

Und in „In Spiegel und Gleichnis“ (1932) ergänzt Guardini: „An dieser Grenze entlang läuft jenes »Draußen«, jene Transzendenz, die wir Heutige vollziehen können. […] Und immer auf der »anderen Seite« dieser Grenze - »andere« Seite nicht gemeint als »das Umgebende«, sondern schlechthin - liegt die lebendig er-fahrbare Transzendenz: der Ort Gottes. Das bedeutet, lebendig genommen, eine bestimmte Haltung, wie ich meine Wirklichkeit und die der Welt erfahre, nämlich als begrenzt. Nehme ich nun dieses Begrenztsein in Redlichkeit und Frömmigkeit an, dann erfahre ich auch die eigentümliche Bedeutung der Grenze: ihre Ausdruckskraft; ihre Fähigkeit, das, was auf der einen Seite liegt, hinüberzusprechen auf die andere - die schlechthin andere. Nun werden alle Grenzen redend. Sie reden mir, der diesseits steht, von dem Andern drüben. Das aber ist letztlich und eigentlich nicht ein Etwas, sondern ein Jemand: Gott“ (Die Entfernung des Andromeda-Nebels, in: In Spiegel und Gleichnis, (7)1990, S. 179) -

Genauer: der dreifaltige Gott, der mir selbst als „Du“ und „Wir“ „in mir“ und „im Andern“ begegnet. Nur im Hören auf diesen und Zugehören zu diesem personalen, dreifaltigen Gott liegt die „Gewähr“ und die „Bewährung“ für jede menschliche Begegnung und Gemeinschaft und dafür, im echten Dialog aus dem „verschlungenen Gesträhn vieler Stimmen“ die „polyphone Wahrheit“ herausklingen zu hören.